Leseprobe Beständiger Wandel

Kapitel 1

Ich muss das einmal einem Menschen erzählen, sonst ersticke ich daran.
Obwohl ich schon sehr lange weiß, dass Reden alleine sowie so zu nichts führt.
Nein, das stimmt nicht ganz.

Es erleichtert.

Aber nur, wenn man an den richtigen Empfänger sendet.
Nur, wenn ein Schwan zum anderen findet.
Statt unter Enten - im besten Falle - zu verkümmern.

Die Lösung meiner Probleme obliegt selbstverständlich ausschließlich mir.
Eigenverantwortliches Handeln ist eine der notwendigen Voraussetzungen einer gut funktionierenden Gesellschaft.
Für mich gilt das, schon seit ich ein Kind war; mein Vater starb als ich 10 Jahre alt war. Aber manchmal ist es so schwer, inmitten all der vielen Menschen die mich umgeben, im Grunde immer alleine zu sein.

Bin ich selbst daran schuld?
„ Du bist zu weich, viel zu weich“, hatte meine Großmutter mir damals vor vielen, vielen Jahren mit einem Blick aus ihren schönen blauen Augen, der weit in die Zukunft sah, gesagt.

Tatsächlich besteht eines meiner Probleme, nein, meine Hauptlast darin, die Hürden, die andere Menschen aufgebaut haben, ständig mit zu beseitigen.
Es sind die Menschen in meiner nächsten und unmittelbaren Umgebung, Eltern, Partner, Kinder, um nur einige zu nennen, die mir ständig ihre Probleme, die sie selbst erzeugen, aufbürden, und sich darauf verlassen, dass ich wieder alles ins Lot bringen werde für sie.
Und ich habe das bisher tatsächlich immer auch getan.
Aus dem Gefühl der Zuneigung und Verantwortlichkeit heraus, und in der Hoffnung diese Menschen mögen endlich einmal Kraft daraus schöpfen, das ein anderer Mensch für sie da ist und ihnen hilft.
Und künftig ihre Aufgaben selbst erledigen und planvoller und umsichtiger handeln, so dass eine Reihe von Folgeproblemen gar nicht erst entsteht.
Das war bisher mein Beitrag zur Verbesserung der Welt, etliche Jahre lang.

Und das Ergebnis? Dazu fiel mir eines der Sprichwörter meiner Großmutter ein, mit denen sie das Leben in den unterschiedlichsten Situationen kommentierte:
„ Undank ist der der Welt Lohn.“ Und:
„ Das Leben ist wie eine Hühnerleiter, man kommt vor lauter Dreck nicht weiter.“
Heute, nach so vielen Jahren, verstehe ich ihren Blick und die Weitsicht ihrer Kommentare.
Und ich verstehe auch, wie aus Idealismus und Vertrauen allmählich Bitterkeit und Verachtung wachsen können.
Seelenmimikri.

Ich wollte einmal die Welt verändern. Ernsthaft.
Und dabei habe ich mich zum Narren, zu einem Idioten machen lassen und selbst gemacht.
Obwohl beruflich und wirtschaftlich so erfolgreich.
Die Welt will ich immer noch ändern, zum Besseren hin. Aber nun ist es an der Zeit zu erkennen, dass die bisherige Strategie falsch war.
Viele Jahre lang vollkommen falsch.
Es ist Zeit für einen Strategiewechsel, wenn ich überleben will.
Ein kleines bisschen meiner Kraft ist noch da, ganz tief in meinem Innersten.

Familie kann ein Himmel aber auch die größte Hölle sein. Ich kenne so viele Menschen. Und um mich herum sehe ich weitaus mehr Hölle als Himmel und Unmengen von Energien, die darin investiert werden, die Hölle nach außen hin himmelblau anzustreichen.

Der Weise begibt sich gar nicht erst in solche Situationen, in denen er ständig damit beschäftigt ist, die Probleme anderer Menschen zu lösen.
Das erkenne ich heute.

Was für ein Trugschluss, der Unterstütze begänne selbst zu laufen, und honoriere ein kleines bisschen nur die Zeit, die man ihm geschenkt hat.
Die dauernde Übernahme der Verantwortung für das Leben eines anderen – sofern er nicht temporär tatsächlich Unterstützung benötigt - führt niemals zu dessen Eigenverantwortung.
Weder auf der einen noch der anderen Seite, beider Grenzen vermischen sich auf ungesunde Art.
Ich war müde, so müde von diesem Laufen im Hamsterrad, dass ich meine Arme auf dem alten, geschnitzten Schreibtisch verschränkte, den Kopf darauf legte, und die Augen für einen kurzen Moment schloss, um zur Ruhe zu kommen, für einen Moment nur.

Mein Gegenüber sagte zu mir:

„Je mehr man einer bestimmten Species von Mensch an Aufgaben abnimmt, umso mehr fordert dieser Typus.
Der Egomane, der nie erwachsen wird und immer andere für die selbstverursachten Ereignisse und Versäumnisse  seines Lebens verantwortlich macht und Ihnen dafür die Verantwortung übergibt, wenn sie die Übergabe zulassen.
Wenn Sie wollen, erläutere ich Ihnen später die Gründe dafür, wann und weshalb diese Übergabe funktioniert.“

Ein kurzes Schweigen, in dem er mich ansah, folgte.
Gebannt von diesem Blick, konnte ich nichts entgegnen, obwohl ich mehr über diese Gründe erfahren musste.

So fuhr er fort:

„Ein solcher Mensch kreist um sich selbst wie ein einsamer Planet ohne Sonne in der Dunkelheit.
Je mehr man diesen Menschen abnimmt, umso träger, bequemer und unzufriedener werden sie. Sie schätzen nur, wofür sie auch bezahlen müssen.
Der Gute und Tüchtige zieht den Schmarotzer an, so wie das Licht die Motte.
Immer unverhohlener fordert ein solcher Mensch von seinem Wirt in dieser ungesunden Symbiose die Erfüllung seiner eigenen Ansprüche.
Das passiert häufig zwischen zwei Menschen, gerade auch in dem kleinen Geflecht menschlicher Beziehungen, das sie Familie nennen; zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und Schwester.
Wie Sie wissen, kann Familie die größte Hölle sein, “
fügte mein Gegenüber hinzu und sah mir dabei ruhig und mit einem Blick voller Wissen in die Augen.

Dieser Blick wärmte mich so wie die Sonne an einem schönen, warmen Frühlingstag voller Vogelgezwitscher an dem sie die frischen jungen Blätter und Knospen der Bäume grüngolden strahlen lässt.

„Das passiert aber auch in größeren Systemen wie Gesellschaften, die die falschen Grundentscheidungen treffen, sich die falschen Ziele setzen und langsam und stetig im Treibsand des falschen Handelns versinken.

Es geschieht seit Jahrtausenden; Gesellschaften und Staaten entstehen und vergehen.

Sie vergehen, wenn die Mehrheit der Menschen in ihnen das heilige Gesetz der Waage verletzt.“

„ Was ist das?“ fragte ich

„Das wissen gerade Sie sehr gut.“

„ Ja, das weiß gerade ich sehr gut“.

Wir schwiegen beide und betrachteten uns; wie ein warmer, ruhiger Strom floss das Verstehen zwischen uns.
Ich unterbrach das Schweigen:

„Das Gesetz ist verletzt, wenn ein Mensch auf Dauer und ohne Not mehr nimmt als er gibt, objektiv und subjektiv; egal ob im kleinen System der Familie oder im großen System des Staates.“
„ Ja“ bestätigte mein Gegenüber.
„ So ist es. Mit der Verletzung des Gesetzes der Waage haben die Beteiligten die Grundlagen für die Zerstörung ihres Fundamentes gelegt.
Jede gute, einzelne Beziehung und jedes größere System von Beziehungen, das auf den einzelnen aufbaut, setzt nur die Beachtung einiger weniger, grundlegender Regeln voraus.
Wenn aber Habgier, Stolz und Überheblichkeit, Unwissenheit und Faulheit, Wut und Hass, Feigheit und Angst ihr Gegenüber Eigenverantwortung, Achtung und Mitgefühl, Umsicht und Geduld, Klugheit und Fleiß verschlungen haben, dann ist das Gesetz der Waage verletzt.
Alle Entscheidungen und alles Handeln wird nun falsch, da das System sich den falschen, grundlegenden Zweck gesetzt hat.“

„ Woran erkenne ich das“, fragte ich?

Mein Gegenüber sagte mit seinem Blick:
„Auch diese Antwort kennen Sie schon seit vielen Jahren.“
„ Ja“, erwiderte ich, nun nicht mehr erstaunt.

Ich blickte zurück und sah in die Welt der  Werte meiner Kindheit: Ich selbst hatte sie  belächelt, verächtlich als spießig abgetan, obwohl ich wusste, in meinem tiefsten Innersten immer gewusst hatte, dass diese Werte, in Wörter gegossen durch die Sprichwörter meiner Großmutter, allgemein gültig waren, dass sie richtig und ein gutes Fundament waren.
Und das nicht nur, weil der wichtigste Mensch in meinem Leben, meine Großmutter, sie mir - meistens zumindest - vorgelebt hat.

Das verstand ich aber erst viele Jahre später, als ihr Schutz mich nicht mehr umgab, und ich ihr nicht mehr dafür danken konnte.
Als ich heranwuchs und älter wurde, begann ich mich über diese Werte, die doch nichts anderes waren als Lebensregeln, lustig zu machen, weil die Erwachsenen um mich herum sich in der Regel im Alltag nicht daran hielten.
Doch damit hatte ich Glauben mit Kirche verwechselt, Legislative mit Executive.
Wegen dieser Verwechslung und der vielen falschen Vorbilder verloren sie ihren Wert, als ich alt genug war, die Menschen nach ihrem Reden und ihrem Handeln zu beurteilen. Lauter Masken. Lauter Widersprüche zwischen Reden und Handeln, zwischen Schein und Sein.
Wo waren denn nur die Menschen in der Wirklichkeit, in der realen Welt geblieben, die zu all diesen guten Werten gehörten und danach lebten?
Gab es sie denn wirklich nur in Büchern und in Märchen?
Und obwohl ich fast immer ernsthaft versuchte, mich  an die guten Werte  zu halten, so begann ich sie doch, nur vordergründig allerdings, zu verachten, weil meine Mutter und die meisten Menschen, die ich kannte, sie durch ihr Handeln als veraltet und aus einer Welt von gestern lächerlich machten.
„ Du mit Deinen ewigen Sprichwörtern,“ hatte meine Mutter oft zu ihrer Mutter gesagt.

So wurden diese guten Grundlagen ganz allmählich ersetzt durch all diese „Unwerte“, die mein Gegenüber gerade genannt hatte.
Ich bin dafür ebenso verantwortlich wie alle anderen, die sich, ohne nachzudenken in dummer Überheblichkeit über all das erhaben fühlen, was vor Ihnen war. Einer Überheblichkeit, geboren aus der Sehnsucht nach dem Richtigen und der Realität des Alleingelassen seins, verursacht durch die Unfähigkeit der biologischen Erzeuger, ihre Aufgaben als Lehrer für die Jüngeren zu erfüllen.
Sie wurden selbst verletzt und infizieren mit ihren offenen Wunden und ihren ungelösten Verstrickungen all diejenigen, die nach ihnen kommen.
In einer endlosen Kette.

Seit Jahren – erst leise, dann immer lauter, propagierte diese Gesellschaft den hemmungslosen und habgierigen Egoismus, der bedenkenlos rafft was er raffen kann – ohne Rücksicht auf die Folgen für andere.
Egoismus, Habgier und andere destruktive Untugenden verloren ihre – zumindest offizielle – gesellschaftliche Ächtung, und wurden als neue Tugenden allmählich auch für die breite Masse gesellschaftsfähig und erstrebenswert.
Ihren Protagonisten galten zunehmend die Bewunderung und das mediale Interesse.
Eine Gesellschaft voller Egomanen, unterwegs in einem irrsinnigen Dreiecksrennen, in nie enden wollenden, sich wiederholenden Runden, immer schneller, zu schwach und zu ängstlich, um zu erkennen, dass es nur zum eigenen Untergang führt, immer schneller um sich selbst zu kreisen wie ein irres Insekt vor dem herannahenden Gewitter.
Sie bezahlen mit ihrem Seelenheil in diesem Kaufsystem, in dem man nur solange geachtet wird, solange man für die Achtung der anderen bezahlen kann.
All das war die logische Folge einer kranken Gesellschaft, krank, weil sie sich für den falschen Zweck entschieden hatte: den Tanz um das goldene Kalb.
Wieder  einmal.
Mein Gegenüber betrachtete mich ruhig.

Er störte mich gar nicht, dieser Blick, nein, eigentlich beflügelte er mich sogar.
Und so dachte ich weiter:
Der eine Unterschied zu früheren Gesellschaften besteht nur darin, dass das tatsächliche Verhalten der früher herrschenden Stände wie Egoismus, Überheblichkeit, Gier, Betrug, Faulheit, die Liste der Untugenden ließe sich noch beliebig erweitern,  aller Untugenden also, die sich früher nur die wenigsten ungestraft leisten konnten, sich heute mittlerweile wie eine Seuche im ganzen Volk ausbreitet.
Der andere Unterschied besteht darin, dass damals die herrschenden Kasten ihre gelebten Untugenden nach außen hin zumindest noch hinter der Fassade der Anständigkeit und Tugend versteckten. Was im Übrigen leicht ist, wenn man die eigene moralische Hässlichkeit durch gekaufte äußere Schönheit verdecken kann.

Auch in Zeiten weit vor unserer Zeit gab es diesen skrupellosen, habgierigen Egoismus, dessen Fratze uns heute - wieder einmal - frech entgegen grinst.
Heute nicht mehr nur den herrschenden Ständen und den erfolgreich dort angekommenen Aufsteigern vorbehalten.

„Sie predigen Wasser und sie trinken Wein“.

Blickt man nur einen kurzen Augenblick in der jüngsten deutschen Geschichte zurück, eine kurze Jahrhundertsekunde nur, so sieht man auf eine endlose Ahnengalerie des Irrsinns.
Ein deutscher  Kaiser Wilhelm, ein bayerischer König Ludwig, und die vielen, die ihnen vorhergingen  und ihnen nachfolgten, und in ihrem menschlichen Verkrüppelt sein, ihrer Not und Überheblichkeit neben allem anderen Unheil in ihrem Elfenbeinturm überdies nicht selten noch zusätzlich Kriege anzettelten.
Menschliches Schlachten, das grausam  und  mit Folgen weit bis in die kommenden Generationen  in das Leben von Millionen Menschen eingriff und es verwüstete.
Währenddessen die Verursacher in wohlversorgtem Weltschmerz oder Vergessen badeten.

Krieg – der primitivste Ausdruck von Egoismus, Habgier und menschlicher Unzulänglichkeit, der es nicht graust, sogar noch aus der Not anderer Kapital zu schlagen – die Ausgeburt kranker Menschen, die krank werden, weil sie sich in einem falschen System verbiegen. Freiwillig.

Und so leicht wäre es, all das zu ächten:
Indem man öffentlich verächtlich macht, was zu verachten ist, und solches Verhalten auch als das benennt was es ist.

„ Ich weiß, was Sie gerade dachten,“ unterbrach mein Gegenüber meine Gedanken.
„ Und Sie haben recht damit.
Es passiert immer wieder, auf der ganzen Welt, seit Jahrtausenden.
In Rom, in Russland, in Afrika, in Ägypten und Portugal, in Indien, Asien und Europa; wo und wann auch immer. Und es passiert auch heute und hier in Ihrem Land.
Ein beständiger Wandel.“

Ich lächelte: „ Eigentlich will ich das alles jetzt gar nicht denken, ich habe momentan absolut nichts von der Analyse der gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge. Das bringt mich jetzt nicht weiter, im Gegenteil, dadurch fühle ich mich fast noch ohnmächtiger, noch handlungsunfähiger. Alles türmt sich vor mir auf, immer höher und erschlägt mich förmlich. Dabei müsste ich meine ganze Kraft jetzt darauf konzentrieren, meine eigenen, erdrückenden, privaten Probleme zu lösen, schon das ist schwer genug, unabhängig von meiner Arbeit und der wirtschaftlichen Situation. Ja tatsächlich, wiederholte ich nur für mich. Warum kann ich nicht endlich aufhören zu denken, in immer größeren Kreisen. Es nützt mir doch gar nichts, wenn ich weiß, dass alles mit allem zusammenhängt.  

 Das ist genau so wie vor Jahren, als ich sechs Jahre alt war und in die Schule kam und schon lesen, schreiben und rechnen  konnte. Es nützte mir nichts mein Wissen, im Gegenteil. Ich sollte lernen, was ich doch schon längst konnte und obendrein noch so tun als könne ich es nicht. Was ist Wissen denn wert, wenn es nicht erwünscht, nicht erkannt, verstanden, oder ignoriert wird.Gar nichts, im besten Falle. Oder es zieht sogar Anfeindungen nach sich, weilman der Norm nicht entspricht und sie durch das eigene Anderssein in Fragestellt.
Wirklich gar nichts?
Ein Nachmittag, ein Spätnachmittag vor vielen Jahren kam mir plötzlich in denSinn. Ich war damals vier ein halb Jahre alt, und meine Großmutter und ich hatten eine ihrer beiden Schwester in der kleinen Gemeinde M. in der bayerischen Oberpfalz besucht. Meine Mutter hatte uns dorthin mitgenommen und abgesetzt, zwischen zwei geschäftlichen Terminen, die sie in der Gegend wahrnehmen musste.
Ich hatte mein grünes Buch, das mir meine Großmutter zu Weihnachten geschenkt hatte, und das ich gerade las, mitgenommen. Es handelte von Tieren, zwölf interessante Tiergeschichten wurden darin erzählt. Die Tiere in den Geschichten benahmen sich wie Menschen. Gerade las ich eine Geschichte, die „Das Gericht der Tiere“ hieß, und von einem kleinen Schweinchen handelte, das angeklagt worden war, gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen zu haben. Das Schweinchen stand ganz alleine vor dem Gericht, und keiner glaubte ihm, obwohl es nichts Unrechtes getan hatte.
Nur der Tiger, der gute Beziehungen zu dem Gericht  hatte, und der es angeklagt hatte, weil er esfressen wollte und im Falle einer Verurteilung auch ungestraft fressen durfte, wusste, dass das kleine Schweinchen unschuldig war. Unfassbar, keiner schien dem Schweinchen zu helfen, es war ganz allein, wurde deshalb immer unsicherer und begann sich immer mehr zu verheddern. Das legte ihm das Gericht als schlechtes Gewissen für den angeblichen Regelverstoß aus. Es stand schlecht um das kleine Schweinchen.
Während sich meine Großmutter mit ihrer Schwester Luise, genannt Luis, unterhielt, las ich die Geschichte weiter und wurde immer fassungsloser, dass  dem Schweinchen keiner glaubte, sondern nur dem herrischen Tiger, der trotzseiner Lügen selbstbewusst und überheblich als Ankläger auftrat. Ohne einenFunken von schlechtem Gewissen. Wie war das nur möglich ?
„Man darf nicht lügen, Lügen haben kurze Beine. Man kann einem Menschen ansehen, ob er lügt,“ hatte Großmutter mir doch immer gesagt.
Mein Onkel Wilhelm, Willy genannt, kam an diesem Spätnachmittag von seinem Dienst bei der Polizei etwas früher nach Hause. Nach der kurzen Begrüßung las ich diese Geschichte, die von der Intrige des Tigers und dem Kampf des kleinen Schweinchens um sein Leben erzählte, still für mich weiter. Irgendwann wurden die Erwachsenen in ihrem Gespräch auch auf mich aufmerksam und ich hörte die Stimme meiner Großmutter, lauter als sonst sagen: „Natürlich kann sie lesen !“„Das glaubst Du doch selber nicht,“ drang die abfällige Stimme meines Onkels Willy zu mir durch und störte mich bei meiner spannenden Geschichte. Es musste einen Ausweg für das Schweinchen geben, irgendwoher musste doch Rettung kommen, da war ich ganz sicher.
„ Doch, freilich kann Sie lesen,“ wiederholte meine Großmutter nun, und zu mir gewandt: „lies einmal laut vor.“ Ich sah sie an und nickte. Und las die Stelle  weiter, an der ich gerade angekommen war, als das Gericht das Schweinchen nochmals streng zu seinen angeblichen Regelverstößen befragte. Den Vorsitz führte die Giraffe: „ Du hast den Tiger beleidigt, letzte Woche, als er euch einen Besuch abstatten wollte. Dadurch hast du seinen Ruf in der Gemeinschaft schwer beschädigt. Du sagtest dabei zu dem Tiger, wie schon einige Male vorher: „Du willst meine Schwester und mich auffressen, letzte Woche hast Du es schon versucht, hinten im Garten. Du willst uns töten und es dann dem Fuchs in die Schuhe schieben, damit Du uns ungestraft auffressen kannst. Du bist heimtückisch und,….“ wollte ich fortfahren.
Nach diesen paar Sätzen unterbrach mich Onkel Willy, an meine Großmutter gewandt: „Pah, das hat sie doch nur auswendig gelernt!“ Ich hörte auf zu lesen und sah meine Großmutter an, denn ich hörte nur die Feindseligkeit in seiner Stimme, deren Ursache ich aber nicht verstand. Und hörte meine Großmutter, mit lauterer Stimme als sonst, als müsse sie sich gegen einen Vorwurf verteidigen, antworten: „Dann bring die Zeitung und gib sie ihr zum Lesen, dann wirst Du schon sehen, das sie lesen kann.“ Hier ging es nicht um mich, sondern um etwas anderes, das fühlte ich deutlich. Und ich schämte mich, denn anscheinend war ich für diesen Unfrieden verantwortlich. Mein Onkel, der ärgerlich aufgestandenwar, kam nun mit der regionalen Tageszeitung zurück, gab sie mir in die Hand und herrschte mich an: „Lies mal das da,“ während er auf der ersten Seite derZeitung auf den Leitartikel zeigte. Da die Erwachsenen ärgerlich waren, weil ich offensichtlich irgendetwas falsch gemacht hatte, strengte ich mich nun noch  umso mehr an und las die Überschrift und die ersten beiden Spalten des Leitartikels vollkommen fehlerfrei laut vor. Wenn ich es gut machte würde wieder alles gut sein. Als ich gerade weiterlesen wollte unterbrach mich meine Großmutter mit triumphierender Stimme, zu ihrem Schwager Willy gewandt.
„Na? Auswendig gelernt? Wahrscheinlich hat sie auch die ganze hiesige Tageszeitung auswendig gelernt?“
Und dabei sah sie ihren Schwager, den Polizisten, der ihr mit verkniffenem Gesicht auf der Couch gegen über saß, sehr gerade, und bereit mich zu verteidigen, an. Ich hatte aufgehört zu lesen und schwieg, irgendwie wurde alles schlimmer statt besser, obwohl ich mich so angestrengt hatte. „Pah, na und,“ hatte mein Onkel Willy erwidert, während er meine Großmutter mit einem vernichtenden Blick maß, und dann meine Tante Luis, die stocksteif und mitversteinerter Miene der Szene beigewohnt hatte, anfuhr: „ Was ist los, gibt es heute kein Abendessen?“ Tante Luis sprang sofort auf, wie ein kleiner Springteufel aus der Schachtel, von einer unsichtbaren Feder förmlich aus der Couch katapultiert und froh, mit einer nützlichen Aufgabe in die neutrale Küche entrinnen zu können. Dort bereitete sie das Abendessen zu und kämpfte mit ihrer aufsteigenden Angst, dass er sie wegen seiner schlechten Laune auch wieder dafür verantwortlich machen würde, dass Peter, ihr zwölfjähriger Sohn wegen andauernd schlechter Schulleistungen gerade das Gymnasium hatte verlassen müssen. Den Ausschlag dafür hatte neben den durchgehend schlechten Leistungen von Peter, das Fach Deutsch gegeben. Peter sprach so wie seine Eltern, mit einem breiten Oberpfälzer Dialekt. Und so hatte er seinen letzten Aufsatz mit den Worten begonnen: „Bliitzt ound duunerd houds,“ was der Deutschlehrerin wieder einmal das Entsetzen über den Rücken gejagt hatte.
Diesen Stil hatte Peter wie immer, da er von zu Hause nichts anderes kannte, bis zum Ende durchgehalten.
Er wusste nicht, dass das für seine Lehrerin immer die doppelte Zeit für die Korrektur bedeutete, da sie den breiten Dialekt erst einmal mühsam in das Hochdeutsche übersetzen musste.
Im vorliegenden Fall  bedeutete der durchaus spannende Einstieg in den Aufsatz mit: Bliitzt ound duunerd houds:“
Es hat geblitzt und gedonnert.
Nach diesem letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, hatte man den Eltern sehr nahe gelegt, den Buben wegen mehr praktischer Fähigkeiten vom Gymnasium zu nehmen.
Er hätte die Klasse ohnehin wiederholen müssen.
So würde Peter ab dem nächsten Jahr wieder die Volksschule bis zum Schulabschluss besuchen.
Peter war nicht böse, der Quälerei entkommen zu sein und sah die Sache pragmatisch.Und lies die Mutter, die ihm heimlich nach einer Tracht Prügel, die Peter von seinem Vater nach der Mitteilung des Gymnasiums, die Willy als persönliche Kränkung nahm, ein Abendessen ans Bett gebracht hatte, trotzig und mit verweinten Augen wissen, dass er später auch zur Polizei gehen werde, wie der Vater, da brauche man sowieso keinen Schulabschluss, da reiche die Volksschule.
Willy war als Polizist ein geachteter Mann in der Kleinstadt und zu Hause einsehr strenger Sittenwächter, dem des Öfteren auch bei Frau und Kindern die Hand ausrutschte.
Jenen Nachmittag damals habe ich nie vergessen. Und auch nicht mein schlechtes Gewissen, ich hatte mich so schuldig gefühlt, denn offensichtlich hatte ich ja den Anlass zu diesem Unfrieden gegeben. Seltsam, weshalb manche, so scheinbar banale Situationen sich wie ein Brandmal in ein Gedächtnis einprägen, so dass es Jahrzehnte später noch immer sichtbar ist.
Tief in meinem Innersten jedoch hatte ich damals gleichzeitig auch begriffen,dass die Reaktion meines Onkels mit mir gar nichts zu tun hatte, sondern nur mit ihm und seiner Welt.
Meine Gedanken kehrten aus der Vergangenheit zurück. Ich war darin versunken und hatte alles andere um mich herum vergessen. Die kalte Gegenwart hatte mich wieder eingeholt.

Ich kann nicht mehr. Eigentlich kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft mir nichts, denn ich bin nicht nur für mich verantwortlich. Alle Alternativen in dieser scheinbar ausweglosen Situation kann ich nicht gehen, obwohl ich mich nach Ruhe sehne und so müde bin. Und fast keine Kraft mehr habe. Wozu lebe ichdenn noch? Ich bin allein, obwohl so viele andere um mich sind. Genug banale Reden und Oberflächlichkeiten angehört. Lange genug funktioniert und stark gewesen um andere nicht zu belasten mit dem eigenen Kram.
Wie auch immer, ich kann nur den einen Weg gehen, den richtigen, egal wie krank diese Gesellschaft ist. Ich muss darin zurechtkommen. Und ich werde es schaffen. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Und jetzt werde ich erst einmal meine drängendsten Probleme lösen.
Geld muss wieder in die Kasse, dringend. Und dann werde ich wieder etwas mehr Luft zum Atmen bekommen.
Aber eigentlich kann ich nicht mehr, ich bin so müde, todmüde.
Und nur noch ganz tief in mir drinnen sagt mir etwas, dass ich jetzt nicht aufgeben darf, nicht nach all dem, was ich schon überstanden habe.
Ich werde es überleben, wenn ich auch jetzt noch nicht weiß, wie.

„Und wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her, “dachte ich.

Mein Gegenüber lächelte mich wieder an, so viel Wärme lag in diesem Lächeln.
Und ich war endlich zu Hause.

Während unsere Blicke aufeinander ruhten, hörte ich die folgenden Worte:

„Beständiger Wandel:
Unrunder Kreis, wie Schnee so weiß.
Gleich den sich dehnenden Wasserringen,
die noch vom Fall des Tropfens künden,
weiten die Kreise sich aus,
ändern Farbe und Form,
verlieren sich,
ganz allmählich,
verblasst,
und von der Fläche erfasst.
Unrunder Kreis, wie Schnee so weiß.“

Wieder trat einen Moment Schweigen ein.

„Sie wollen mir mit diesen Worten etwas sagen.
Bisher habe ich alles verstanden.
Aber, was Sie gerade sagten – den Sinn begreife ich nicht.
Oder doch – aber ich kann ihn noch nicht erkennen, nicht benennen, eher wie eine ganz entfernte, leise Ahnung, ganz tief in meinem Innersten, wie ein Klang aus einer entfernten und doch vertrauten Welt“.

„Ich weiß,“ erwiderte mein Gegenüber.

„Sie haben verstanden.
Das Verstehen beginnt immer mit einer fernen, leisen Ahnung, die man durch Aufmerksamkeit und Beachtung pflegen und begießen muss, so wie ein keimendes Samenkorn.
Sie nennen dieses tiefe Wissen auch Intuition. Aber leider tun Sie sehr oft das Gegenteil dessen, was ihnen diese innere Stimme sagt.
Doch zurück zu den greifbaren Dingen,“
fuhr mein Gegenüber fort:
„Um ein Beispiel aus ihrem Kulturkreis zu nennen:
Es hätte - 500 Jahre vor ihrer heutigen Zeit - keinen Luther und keine Thesen zu Wittenberg gegeben, hätte damalsdie katholische Kirche im Bewusstsein ihrer absoluten Macht und der Hörigkeitihrer Mitglieder, die sie ja eigentlich behüten und schützen sollte, nicht  immer dreister und für alle sichtbar das Gesetz der Waage verletzt.

Und damit das weitere Gesetz von Aktion und Reaktion ausgelöst.“

„ Ja“, erwiderte ich und lächelte:
„ Ein Sprichwort meiner Großmutter, dass ich so oft von ihr gehört, und überdas ich mich so oft lustig gemacht hatte, fällt mir dazu noch ein:
Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.“

Mein Blick wanderte aus dem Fenster, hin zu den alten Linden und weiter hinauf zuden mit dunklen Tannen und Fichten bewaldeten, sanft ansteigenden Hügelndahinter.

Mittelalterliche Bilder tauchten dort auf, die ich zuletzt vor zwei Jahren in einem alten Kloster gesehen hatte: Katholische Geistliche und Mönche waren darauf dargestellt, wie sie der Völlerei und sexuellen Ausschweifungen huldigten.
Ein wenig verklausuliert war diese Janusgesellschaft in diesem Bilderzyklus dargestellt worden, aber doch deutlich erkennbar: Feiste Mönche mit Doppelkinn, vor voll gedeckten Tafeln, bedient von schönen, üppigen und leicht bekleideten Frauen.
Mancher Mönch hatte sogar einen Pferdehuf, erkennbar nur, wenn man genauer hinsah, auf dieses Gewand, so wie es statt über einen Fuß über einen Huf floss,der sich unter dem Umriss des Gewandes abzeichnete.

Und nun sind wir wieder einmal so weit. Schon wieder einmal.

Eine Gesellschaft steht kurz vor dem Abgrund, wenn sie sich nicht einmal mehr die Maske des Anstandes vorhält, sondern unverhohlen und ohne Scham die   hässliche Fratze von Habgier, Egoismus und Menschenverachtung, gepaart mit immer dreisteren Lügen zeigt.
So wie damals, zu Zeiten der Reformation, als der geldgierige Papst in Rom das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, indem er den immensen Geldbedarf für seinemaßlosen Ansprüche, sein  luxuriöses Leben und den Bau des Petersdoms mit einer weiteren Geldquelle - dem Ablasshandel- finanzieren wollte.
All diese Bilder reihten sich vor meinen Augen aneinander – ein ewiger Film, nur die Darsteller und die Namen der Abgaben die man den Menschen abnahm, wechselten im Laufe der Jahrhunderte.

Jedes Überspannen des Bogens löst stets eine Gegenbewegungaus.

Und Jesus warf die Schächerer aus dem Tempel.

Ich musste lächeln.

„ Entschuldigen Sie bitte“, ich wandte meinen Blick wieder meinem Gegenüber zu.
„ Sie müssen sich nicht entschuldigen“.
Auch diesmal haben Sie wieder recht mit dem was Sie gerade dachten - und auch mit Ihrem Lächeln.“

Es erstaunte mich nun nicht mehr, dass mein Gegenüber meine Gedanken lesenkonnte, es verband uns sogar, weil wir uns erkannten.

„ Ja,“ erwiderte ich, „ es ist wahrlich keine Erfindung der Neuzeit, mit virtuellen, nicht existierenden oder wertlosen Gütern und Rechten zu handeln.

Die katholische Kirche verkaufte damals die Vergebung der Sünden als virtuelles Gut.
500 Jahre später zum  Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts verkaufen Banken und Manager, lediglich eine Erweiterung in der Riege der Priester und Illusionisten,  immer noch oder schon wieder ebenso absurde, virtuelle Rechte an Immobilien, Gütern oder Rechten, die es gar nicht gibt, oder denen überhaupt kein realer Wert gegenübersteht.
Sie verkaufen virtuelle Werte, Illusionen, an ihre Opfer, oder verdienen mit absurden Wetten auf den Bankrott ganzer Staaten und die Entwicklung von Preisen für Nahrungsmittel Unsummen von Geld.

Nur die Illusionen wechseln im Lauf der Jahrhunderte:

Was darf es denn sein?

Vielleicht die Vergebung der Sünden ?
Oder des Kaisers neue Kleider?
Oder Rechte an einem Hotel in der Mongolei?
Vielleicht doch lieber Tulpenzwiebeln?
Oder wetten wir, dass morgen an den Rohstoffbörsen der Preis für Getreide steigt?
Oder der Preis für Wasser?

Wir haben alles im Angebot !
Ablassblase, Tulpenblase, Internetblase, Immobilienblase,  um nur einige wenige zu nennen.

Lernst Du denn niemals, Mensch, aus dem Fluss der Zeit?

Die Scharlatane finden in jedem Jahrhundert einen passenden Markt.
Und auch immer wieder die dazu passenden Käufer.
Das ist der wahre Teufel. In Wirklichkeit hat er keinen Pferdefuß, das ist nur ein Symbol. Man sieht es dem Teufel nicht an, dass er einer ist. Man erkennt ihn nur an seinen honigtriefenden Reden und an dem, was er im Gegensatz dazu tut.
Und er steckt in jedem von uns.
Jeden Tag können wir neu entscheiden, welchen Weg wir gehen.
Alles ist in uns, jeder Weg ist möglich. Und tausend Ausreden und Entschuldigungen, mit denen wir uns den falschen Weg schönreden, können alle anderen täuschen, nur nicht uns selbst, unser eigenes, tiefstes Innerstes.

Dabei ist es doch so einfach, statt immer wieder das Falsche, das Richtige zu tun.

„Kennen Sie das Märchen von Hans Christian Andersen: des Kaisers neue Kleider?“wandte ich mich nun wieder meinem Gegenüber zu.

„Ja, natürlich:
Gerissene Schneider verkaufen einem dummen, eitlen Kaiser , indem sie sich dessen Charakterschwächen geschickt zu Nutze machen, die Illusion von kostbaren,Sternengespinst gleichen Kleidern, die es gar nicht gibt, für sehr viel Geld. Sie reden ihm ein, dieses Nichts an Gewand könne nur sehen, wer über außerordentlicheKlugheit und Intelligenz verfüge. Nur ein kleiner Junge sagt die Wahrheit über den nackten Kaiser der ebenso dumm wie stolz in seinem Illusionsgewand umherschreitet:
Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an.“

„ Ja,“ erwiderte ich, „ denn sie haben erkannt, dass es die höchste, weil perfektesteForm des Betruges und der Korruption ist, wenn sich das potentielle Opfers selbstfreiwillig in den Selbstbetrug verstrickt, indem es das scheinbar soverlockende Angebot freiwillig annimmt.
Und wer so weit gegangen ist, ist dann fast immer auch zu feige, die Dinge beim Namen zu nennen und den Fehler oder den Betrug zu korrigieren. So wird derSelbstbetrug und der Betrug an den anderen immer größer, der Kokon der eigenenVerstrickung immer dichter und klebriger.

Eine Phase, in der sich diese Gesellschaft gerade wieder einmal befindet.
Faulheit, Feigheit, Unwissenheit und Gier, gepaart mit weiteren persönlichenCharakterschwächen nehmen proportional zur Beratergläubiger zu. Ein Berater für alle Lebenslagen – der Hohepriester der Neuzeit.
Und die  gerissene Inkompetenz und Habgier der Berater, die proportional zunimmt zur Inkompetenz des Beratenen, verstrickt jeden unfähigen Entscheidungsträger weitaus mehr in das Spinnennetz  des Schweigens, des Mitläufertums und der Korruption, als es eine diskrete Geldüberweisung auf ein vertrauliches Konto  oder eine  Affäre mit einer bezahlten Hure tun könnte.

Im Märchen hat nur ein kleiner Junge den Mut zu sagen:
„Aber der Kaiser hat ja gar keine Kleider an“.

Ich schwieg einen Moment und fuhr dann fort:
„Genauso schlimm wie die Täterschaft jedoch, sind aber auch das Mitläufertumund das Schweigen.
Wer schweigt, zusieht und es unterlässt, richtig zu handeln, jammert und dauernd nach Ausreden sucht um Mängel schön zu reden, macht sich ebenso schuldig wieder, der schlecht und unrecht handelt.
Übrigens eine auch in unserem Rechtssystem strafrechtlich kodifizierte Regel.
Wir erleben in unserer gegenwärtigen Finanzkrise, in der diesmal Banken dem Kaiser für viel Geld wieder einmal etwas verkauft haben, was es gar nicht gibt,“fuhr ich fort, „ also überhaupt nichts Neues, sondern nur ein typisches Symptomund Muster einer kranken Gesellschaft die ihr wahres Gesicht immer unverblümterzeigt, oder wenn sie so wollen,  aus dem Ruder geraten ist.
Wie ein Flugzeug, bei dem erst der Strömungsabriss  zu einer Abwärtsbewegung führt.
Das Flugzeug könnte jetzt, in dieser Situation, noch leicht abgefangen werden.
Ist der Pilot der Situation jedoch nicht gewachsen, schätzt er sie falsch ein, hater zu wenig Erfahrung, oder kann er, genauso schlimm, gar nicht fliegen, dannfängt das Flugzeug an zu trudeln, immer stärker, wie ein Ahornsamen, der inkreiselndem Propellerdrehen unausweichlich auf den Boden zu taumelt.
Warum passiert das nur immer und immer wieder?“
fragte ich nun mein Gegenüber.

„Sie kennen die Antwort.
Und wir haben auch bereits darüber gesprochen: die falschen Werte wie Unwissenheit, Habgier und Feigheit, geboren aus frühem Leid, gepaart mit den falschen Vorbildern und den falschen Regeln in den Köpfen der Mehrheit in einem System.
Je mehr und umso schneller also das Flugzeug abwärts taumelt, “ führte mein Gegenübernun den Vergleich fort, „ umso besser, erfahrener und entschlossener müssen sowohl der Kapitän als auch die Mannschaft  sein, um das Flugzeug wieder in die Waagrechte und auf Kurs zu bringen.
Allerdings zeigen Gesellschaften in dieser Phase des Abwärtstrudelns infolgedes Chaos im System häufig das Symptom, dass, je schwieriger die Situation, die jeweils unfähigsten Teilchen im System die Steuerruder besetzen, obwohl es gerade jetzt der Kompetentesten und Besten im Cockpit bedürfte“.

Vor meinem geistigen Augen tauchte noch ein anderes Bild auf:

„Wie auf einem Schiff, auf dem der Kapitän keinerlei Ahnung von Navigation undBedienung des technischen Gerätes hat, sondern nur auf der Brücke steht, auf die er aber gar nicht hingehört.
Und nur, weil er dort in seiner Uniform steht, projizieren die Passagiere auf ihn die Illusion der Kompetenz; obwohl sie den Eisberg, in den er das Schiff gleichsteuern wird, immer näher kommen sehen.
Und statt zu handeln erstarren sie in der Agonie ihrer Illusion.“

„ Genauso“, erwiderte mein Gegenüber.

„Aber um ihre Frage aufzugreifen- die zentrale Frage - warum passiert das Immerwieder?

Hier ein Teil der Antwort:

Beständiger Wandel:
Unrunder Kreis, wie Schnee so weiß.
Gleich den sich dehnenden Wasserringen,
die noch vom Fall des Tropfens künden,
dehnen die Lebenskreise sich aus,
ändern Farbe sich  und Form,
verlieren sich die  Kreise,
am Ende,
allmählich verblasst,
und von der Fläche erfasst.
Unrunder Kreis, wie Schnee so weiß.“

Mein Gegenüber schwieg.
Wir schwiegen beide.
Ich unterbrach die Stille:
„Sie meinen, es genügt nicht, die guten und richtigen Werte nur zuproklamieren; sie in eine Verfassung, oder in ein Grundgesetz zu schreiben.
Jeder Einzelne muss auch danach leben.
Ja, so ist es. Das ist der Schlüssel. Jede Gesellschaft, jedes System ist nurso stark oder auch so schwach, wie die Mehrheit der Einzelnen darin. Nur schwache Menschen brauchen Führer, und nur Kranke folgen Blendern,“ wiederholteich, mehr zu mir selbst.
„ Jeder einzelne Mensch ist in seinem Leben dafür verantwortlich, die richtigen Werte zu erkennen und sie im Alltag der dauernden Interessenkonflikte auch zu leben, was weitaus schwieriger ist.
Aber eigentlich auch nicht. Es ist nicht schwieriger. Nur die Angst flüstertuns das hinterlistig ein.
Angst zu versagen, Angst vor Verlust, Angst, ausgeschlossen zu sein.
Sie kennen ja auch das Sprichwort,“
 wandte ich mich wieder an meinGegenüber:
“Der Ehrliche ist immer der Dumme“.

Mein Gegenüber erwiderte:

„Das stimmt nur kurzfristig und bezogen auf den Erwerb und Besitz materieller Güter in Ihrer Gesellschaft.
Ein kluger Mensch denkt weiter und erkennt, dass seine Gesundheit sowohl vonmateriellen Gütern wie Nahrung, Wasser, Wohnung als auch von nicht materiellen Güternwie seiner eigenen Selbstachtung abhängt, davon ob er sich etwas wert ist undwie er sein Brot verdient.

Übrigens bestimmen die ideellen Werte eines Menschen auch die Art und Weise,wie er sich seine materiellen Werte schafft.

Wenn im Laufe eines Lebens Schein und Sein immer weiter auseinander streben, so wie die weit geöffneten Blätter einer Schere; wenn ein Mensch nach außen hin etwas darstellt, was er nicht ist, vorgibt, Dinge zu tun, die er nicht tut, Schuhe trägt, die ihm eigentlich viel zugroß sind, so wird er in seinem Leben sehr viel Energie damit verbringen, zwischen diesen weit auseinander liegenden Grenzen seines Schein und Sein in atemloser Hast hin und her zu pendeln und zu rennen, um beides mühsam nach außen  hin als Einheit erscheinen zulassen.

Und er wird in seinen viel zu großen Schuhen dauernd stolpern und hinfallen und wieder aufstehen, und wieder stolpern, und nicht  wirklich von der Stelle kommen und keine Zeit mehr für richtige und übergeordnete Ziele haben, und sie so allmählich aus den Augen verlieren.
Wenn er denn überhaupt jemals Ziele hatte, die über sein eigenes Egohinausreichten.
Dieser Mensch ist aber nicht nur ständig mit Stolpern, Hinfallen und Wiederaufstehen beschäftigt, sondern zusätzlich auch damit, anderen Menschen dafür die Schuld zu geben und das Straucheln nicht wie Straucheln erscheinen zulassen.
Dazu benötigt er, wenn er sich die  Schuhe eines Entscheidungsträgers angezogen hat, Menschen, die ihn abschirmen und das Straucheln für das Publikum als eigentlich aufrechten Gang überzeugend darstellen und verdrehen.

Berater also.

Sie sehen, für ein Innehalten, Nachdenken und Setzen der richtigen Ziele bleibtinfolge der permanent erforderlichen falschen Aktivitäten – erforderlich infolge des ganz am Anfang falsch eingeschlagenen Weges – nun scheinbar keine Zeit mehr.

In Ihrer Gesellschaft hat man schon allerlei kreative Bezeichnungen gefunden für Störungen, die bei diesem selbstmörderischen Prozess der Anpassung an das Kranke und der permanenten Selbstvergewaltigung auftreten.“
 „Ja,“ erwiderte ich, „ die sogenanntenExperten nennen das zum Beispiel  „BurnoutSyndrom“, oder „Depression“ und bewerten diesen Zustand kurzerhand alsKrankheit und deren Träger damit als - zumindest temporär - nicht normal und funktionsfähig. Nichts scheint größer zu sein, als die Angst, die wahren Ursachen zu erforschen und sich selbst ins Gesicht zu sehen.“
Mein Gegenüber nickte und fuhr fort:
„Statt die Ursache somit in den falschen Systemregeln zu erkennen und sich mit derLösung und damit Systemveränderung zu beschäftigen, werden diese sogenannten Sozialisationsstörungen zur individuellen Funktionsuntüchtigkeit des Einzelnen verdreht.
Man zeigt mit dem Finger, dem der Aussatz des Ausgeschlossenseins anhaftet, auf das angeblich kranke Individuum, nicht ohne dabei Krokodils Tränen zu vergießen und in der sicheren Hoffnung, niemals selbst aus dem rasenden Karussell der Anpassung an das Kranke zu fliegen.
Jeder im System kennt dieses Spiel, deshalb spielen so viele mit.
Aus Angst und dem falschen Glauben, nur so überleben zu können.
Also  aus Schwäche.

Dabei könnte der Mensch Probleme,- was auch immer das sei,- ganz einfach und leicht lösen, indem er, nachdem Stolpern, Hinfallen und Aufstehen sich einige Male immer wieder wiederholt  haben, und fast alle Energien rauben, endlich einmal stehenbleibt.
Die falschen Schuhe betrachtet, als zu groß oder als nicht passend erkennt, auszieht und die richtigen Schuhe anzieht.
Nun kann er, ohne permanent in einer Wiederholungsschleife immer wieder zu straucheln und letztlich zu verzweifeln – seinem richtigen Ziel zustreben und seine Energie auf den Weg dorthin konzentrieren.“

Ich schwieg, nun doch ein wenig verblüfft.

„Sie sagen mit ihren Bildern mehr als ein Buch mit tausend Seiten.
Und alles ist richtig.
Und ich bin froh, wissen Sie das?
Denn wenn man immer klarer sieht, was ist,“ fuhr ich fort, „ kann jede weitere Stufe der Erkenntnis - zunächst zumindest - bedrückender sein, auch, weil man sich so alleine glaubt. Kennen Sie das Märchen vom hässlichen Entlein?“ fragte  ich mein Gegenüber.“
„Ja, Allein sein inmitten vieler anderer, nur scheinbar Gleicher, tut weh. Man muss sich aufmachen um seinesgleichen zu suchen, sonst bringen Sehnsucht und  Mittelmaß einen um,“ lächelte mein Gegenüber.
Ich nickte und fuhr fort:
„Und jede Stufe offenbart immer mehr auch die Größe der Aufgabe, die die Veränderung mit sich bringen wird. Und dann muss man ja auch noch sein eigenes Leben mit seinem Alltag und den wirtschaftlichen Verhältnissen im Griff behalten.
Je deutlicher ich jenseits der Bilder, die die heutigen Illusionisten  in Politik und Medien zeichnen, und des Nichts, das sie uns für unser Geld verkaufen – so wie die Schneider dem Kaiser immer mehr Geld abnehmen für  kein Gewand-  den Zustand des gesellschaftlichen Systems, in dem wir heute leben, erkannt hatte, umso niedergeschlagener wurde ich, angesichts der Aufgabe, dieses System hin zum Besseren zu verändern.
Obwohl ich ganz sicher weiß, dass  jedes System sich verändern kann. Jedes System besteht letztendlich nur aus der Summeseiner Teilchen.

Nicht umsonst lassen uns die Arie des Sarastro in Mozarts Zauberflöte, oder BeethovensFünfte Symphonie im tiefsten Inneren erkennen und spüren, was richtig ist:
Das letzte Mal hatte ich vor vier Jahren bei den Salzburger Festspielen dieZauberflöte gesehen. Wie gerne hätte ich einen weisen Sarastro im wirklichen Leben gekannt:
„ In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht. Und ist ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht.“

Auch ein Stall des Augias konnte ausgemistet werden.

Und schließlich, wenn ich nur ein paar Jahre zurückdenke, in unsere jüngste Vergangenheit,dann sehe ich ein nach dem zweiten Weltkrieg zerstörtes Land, das hungrige,gequälte  und verletzte Menschen aus Schutt und Ruinen rasch wieder aufgebaut haben, ohne dass jemand sie gefragt  hätte, wie sie all das verkraften konnten.
Wenn Menschen das erreichen konnten, dann können Sie gemeinsam auch dieses heutigeSystem, das in dem Märchen „ Des Kaisers neue Kleider“  erstarrt ist,  wieder auf den richtigen Weg bringen.

Und dann weiß ich auch, dass alles möglich ist, alles zum Guten und Richtigen hin geändert werden kann.
Heraus aus dieser Abwärtsbewegung, in der wir schon weit über den Strömungsabriss hinaus nach unten trudeln, immer schneller.

Jedem System wohnt immer auch die Möglichkeit der Veränderung inne.

Ein gute Mannschaft, die sich aus ihrer lähmenden Agonie befreit und das Steuerruder wieder selbst  in die Hand nimmt, wird das Flugzeug  abfangen und wieder auf den richtigen Kurs bringen.“

Ich schwieg einen Moment, und fuhr dann fort:

„Das ist allerdings auch die gefährliche Zeit für Demagogen und sogenannte Führer,gleich welcher Couleur und gleich hinter welchem Amtsetikett sie sichverstecken, die bravourös schnelle Lösungen versprechen, oder Probleme solangedurch Inkompetenz und letztlich durch persönliche Schwäche und Machtgier ungelöstvor sich herschieben, anderen in die Schuhe schieben, aussitzen oderignorieren, bis ihre Amtszeit beendet ist  und sie, persönlich sehr wohlversorgt, entlasst.“

„Und denken Sie, das sei ein so großer Unterschied zu Ihrem gerade gelebtenGesellschaftssystem? “ Lächelte mein Gegenüber mich an.
Ich schüttelte den Kopf:
„ Nein, und auch nicht hinsichtlich der Folgen:
Denn gleichzeitig wird der selige Schleier des Vergessens von den Menschen, die den Ministerial,- und Ämterapparat ausfüllen und großzügig von ihm ernährt werden, über die Vergangenheit samt Vorgänger gebreitet. Und sie sind stetsbereit, den nächsten, möglicherweise wieder inkompetenten Nachfolger zu erwarten, genauso so wie eine Hure den nächsten Freier,“ fuhr ich fort.

„ Nun,“ unterbrach mein Gegenüber mich, und lächelte wieder , „ Sie haben mir vorhin von Ihrer Großmutter erzählt, die die Angewohnheit hatte,  Situationen des Öfteren mit ihren Sprichwörtern, die Ihnen als Kind beziehungsweise später so auf die Nervengingen, zu kommentieren, nicht wahr?“

„ Ja“, entgegnete ich, „ aber ich verstehe den Zusammenhang nicht“.

„ Sie kennen sicher das Sprichwort vom  „Wolf im Schafspelz“ nicht wahr?

„Das kenne ich natürlich“, antwortete ich, „ und jetzt weiß ich auch, woraufSie hinauswollen:
Eine ordnungsgemäß juristisch kodifizierte Gesellschafts,- oder Staatsform allein ist kein Garant für eine gute und menschenwürdige  Gesellschaft, denn schließlich kann man jeden Unsinn und jede Schlechtigkeit als Gesetz verpacken. Die Nationalsozialistenhaben uns das ja mit ihrer rechtlich ganz legalen Machtergreifung 1933 und ihren juristisch und wissenschaftlich legitimierten Schlachthöfen für Menschen vor nicht allzu langer Zeit wieder einmal bewiesen.
Der Mensch kann ein Kannibale sein. Und auch das steckt in jedem von uns. Wer das für sich weit von sich weist, lebt noch im seligen Elfenbeinturm, niemals dauerhaft überfordert und verletzt worden zu sein.
Der einzige Garant für eine lebenswerte Gemeinschaft besteht darin, dass dereinzelne Mensch im System Verstand, Klugheit, Eigenverantwortung und Selbstkontrolle lebt, und zwar jeden Tag. Und nicht blind, faul  und ohne Verstand die Verantwortung für seine Entscheidungen und die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf andere übertragt,die den Nachweis ihrer Kompetenz nur dadurch erbringen, dass sie sich selbst als am meisten befähigt für die Erledigung öffentlicher Aufgaben anpreisen, und lediglich die Regeln des Spiels von Sein und Schein mangels moralischer Skrupel besser beherrschen als andere.
Und um auf den vorigen Vergleich zurück zu kommen: Besonders in Zeiten, in denen das Flugzeug immer schneller abwärts taumelt, sind viele Menschen aus Angst zu verlieren, was sie haben, immer eher bereit, gegeneinander zu kämpfen und den lautesten Schreihälsen das Steuerruder zu überlassen.
Das ist so, als ließe man sich am Herzen operieren, von einer Person, die man nicht kennt, die tatsächlich keinerlei chirurgische Ausbildung hat, die aber imOperationssaal steht, gekleidet wie ein Chirurg, und den Patienten zunächst einmal aufschneidet, ohne zu wissen, wo sich Leber, Lunge, Herz und Milz befinden, undwie diese Organe zusammenarbeiten, nach dem Motto: Fangen wir einfach erst einmal an, dann werden wir schon weitersehen.“

Bisher hatte mein Gegenüber meine Gedanken sehr distinguiert, mit leichtem Nicken oder Lächeln kommentiert, jetzt hörte ich ihn das erste Mal laut lachen,ein schönes, samtiges Lachen.

„ Diesem treffenden Vergleich ist nichts hinzuzufügen“, nahm er das Gespräch wieder auf.
„ Und die Lösung der Misere? “ Fragte er mich.
„Wie schon gesagt,“ fuhr ich fort:
„Der erste Schritt zur Lösung ist, dass alle Mitglieder der Mannschaft sich gutausgebildet und mutig in das Flugzeug setzen, so das grundsätzlich  jeder in der Lage wäre, das Flugzeug zusteuern.“
„Nun“ , unterbrach mein Gegenüber, „ der Vergleich hinkt vielleicht ein wenig, ist aber prinzipiell richtig.
Es muss ja nicht jeder alles können.
In ihrer Gesellschaft misst man dem temporären fachlichen Wissen – technisch, naturwissenschaftlich, juristisch, medizinisch und so weiter ohnehin viel zuviel Bedeutung bei.
Dieses fachliche Wissen über die gerade aktuellen Bereiche des Lebens in einerGesellschaft, entsteht, verändert sich, vergeht und wird ersetzt durch neuesWissen. Und schließlich ist es ja auch ganz einfach, jeden Tag dazu zu lernen.

Aber es gibt noch ein anderes, ein wesentlich grundsätzlicheres Wissen, eines, das über all die Jahrhunderte immer gleich bleibt, das Wissen um die richtigenWerte, wie man sie erwirbt und wie man sie erhält und sich stärkt, derVersuchung zu widerstehen.
Eine entscheidende Voraussetzung für die Selbstverantwortung des Einzelnen und damit auch der Gesellschaft, ist das Erlernen von Problemlösungsfähigkeit, vonAlltagskompetenzen und der Übernahme sozialer Verantwortung auf der Basis einesstarken Ich.
Die richtigen  Ziele selbst zudefinieren, Sachverhalte und Fakten zu analysieren, die richtigen Fragen zustellen, der Verpflichtung nachzukommen, fachliche Inhalte bezogen auf denEmpfänger für diesen transparent zu übersetzen. Denken Sie nur an ein gutesArzt – Patienten Gespräch.
Die Liste ließe sich beliebig erweitern und mündet schließlich wieder in die Summe der guten Werte wie Verstand, Umsicht, Klugheit, Ehrlichkeit, Ausdauer, Mut, und so weiter.
Und natürlich bedarf es auch der grundlegenden Erkenntnis, dass es dem Einzelnen im System nur dann gut gehen kann, wenn das ganze System gesund ist.

Nur auf dieser Basis kann sich eine  guteund gesunde Gesellschaft entwickeln, die die gegenseitige Achtung und dassoziale Miteinander ihrer Mitglieder gewährleistet.
In diesen Werten muss eine Gesellschaft sowohl ihre Kinder erziehen als auchdiejenigen  erwachsenen Mitglieder, die infolge der mangelnden Beachtung der richtigen Werte den falschen Werten  folgen und deshalb permanent mit Hinfallen und Wiederaufstehen beschäftigt sind, und damit, anderen dafür die Schuld zugeben oder gewalttätig um sich zu schlagen.

Und erziehen heißt : V O R L E B E N.“

Ich unterbrach ihn: „ Sie betonen das so dezidiert, ich weiß doch, dass sierecht haben. Ich habe heute schon viel von Ihnen gelernt, aber das, das wussteich schon aus eigener Erfahrung.
Etwas unorthodox ausgedrückt: Schluss mit der Trickserei und hin zurEhrlichkeit, dann gibt es auch keine randalierenden Jugendlichen mehr.
Ändere Dich selbst und du änderst das System“.

Wieder lachte mein Gegenüber laut:
„ Ebenso richtig wie banal und einfach.
Wer  mit Weisheit, Umsicht, Verstand undMitgefühl seinen Lebensweg geht, der kann auch einem fachlichen Berater wie beispielsweiseeinem Arzt, einem Anwalt oder einem Elektriker die richtigen Fragen stellen und-genauso wichtig - auch deren Antworten verstehen.
Ein solcher Mensch kann so auch einen guten Berater von einem schlechtenunterscheiden, und kann dadurch selbst in Zeiten und in Situationen, in denener auf fremde Beratung angewiesen ist, stets die Kontrolle über seineEntscheidungen und damit über sein Leben selbst behalten.
Statt ohne Kontrolle und Übersicht wie eine Walnussschale auf dem Ozeanumherzutaumeln.
Ein Zuviel an Anforderungen, die man tatsächlich bewältigen muss oder glaubt,bewältigen zu müssen kann zu Ohnmacht und Kontrollverlust führen.
Ihre Gesellschaft bezeichnet das Ergebnis dann als Krankheit beispielsweise inForm einer Depression, und kuriert lediglich oberflächlich an den Symptomen umher, mit Pillen, Tabletten und den abstrusesten Ratschlägen. Statt die Ursachen zu analysieren und den einzelnen Menschen stark zu machen, so dass er seine Probleme auch ohne Medikamente und ohne falsche Berater  lösen kann.“

„Ja“, erwiderte ich, mehr zu mir selbst, wobei ich an die vergangenen Jahre dachte.
„ Das ist einer der Gründe des Taumelns: Verlust, oder besser vermeintlicher Verlust der Kontrolle, angefangen bei dem eigenen Leben bis hin zu dem größeren Beziehungsgeflecht der gesellschaftlichen Verhältnisse, der  Gemeinschaft und des Staates, in dem manlebt.“
„ Ja“, wiederholte ich noch einmal, „ es ist lediglich der Glaube daran, man hätte die Kontrolle über das eigene Leben verloren, der einen ins Bodenlose stürzen lässt.
Denn man kann die Kontrolle gar nicht verlieren, man kann sich nur selbst ineinen Kokon aus Ansprüchen, Anforderungen und Aufgaben einspinnen, eigenen, und fremden, die einen oftmals garnichts angehen, für die man weder verantwortlich noch zuständig ist, die mansich jedoch aufbürden lässt wie ein alter Esel eine viel zu schwere Last.
Und für diese Fehleinschätzung, in die man sich selbst  verstrickt hat, oder hat verstricken lassen,bezahlt man dann überdies noch  mit vermeintlicher Lähmung, Verbitterung, Wut oder - in der Phase der endlosenWiederholungsschleifen und der wiederkehrenden Muster - mit Zweifeln an sichselbst und dem Verlust der Selbstachtung.
Damit ist die Depression geboren.“

Ich lächelte, weil es gut tat das zu hören, denn es war richtig, und es machte mich gesund, die Dinge und deren Zusammenhänge immer klarer zu erkennen.
Die Erkenntnis war die richtige Basis und der erste Schritt für die Veränderung  des bisherigen Zustandes.

Und nun fuhr ich fort:
„ Es deprimiert mich nicht mehr, das wahre Gesicht hinter der Maske dieser Gesellschaftmit dem Janusgesicht der Mildtätigkeit und scheinbaren Toleranz einerseits zuerkennen.
Andererseits ist der Alltag tatsächlich durch ganz andere Regeln geprägt: durch die Brutalität des ständigen Vergleichens und Aussortierens, des dauernden Kampfes gegeneinander und einer wüsten Flut unsinniger Regeln und Vorschriften, die  einander widersprechen und wie Krebsgeschwüre explosionsartig wuchern. Die kranke Fratze einer Gesellschaft, die immer unverhohlener um das goldene Kalb tanzt und dem Mammon huldigt.
Diese Janusgesellschaft verliert sich, wie viele andere, schon vorher daran  zugrunde gegangene Gesellschaften, in der kranken Profilneurose ihrer lautesten Protagonisten, während im Publikum, einer nach dem anderen, das Theater mit  diesem abstoßenden und unwürdigen Schauspiel verlässt.
Währenddessen sind die Protagonisten vorne, auf der Bühne weiterhin nur damit beschäftigt, aufeinander einzuschlagen, ohne zu bemerken, dass sich das Theater immer weiter leert, und ihr Spiel kein Selbstzweck ist.
Eine Art Neuauflage  von Shakespeares TitusAndronicus.
Alle, die nicht mehr applaudieren wollen, werden als „ Krank“ etikettiert. Sowie ein qualitativ gutes Glas Kirschmarmelade, auf das irgend jemand „ Vorsicht Schimmel“ geschrieben hat, und jeder glaubt diesem Etikett.

Wer nicht mehr klatscht, hat eine Depression und muss behandelt werden.
Und wenn dieser Mensch  schließlich selbstan seine Krankheit glaubt – ohne mit klarem Verstand nach Ursachen und Lösungenzu suchen, dann wird er die  in  kleinen Tabletten komprimierten Garanten für betäubtes Glück nehmen, die ihm ein scheinbar kompetenter Berater für  ein zufriedenes Verharren auf seinem Sitz imTheaterpublikum als Lösung anbietet.
Kurzum: Ein Mensch, der diese Maschinerie durchschaut,
steht am Scheideweg zwischen Depression und deren  Folgen oder der Variante, die Kontrolle über sein Leben und den Glauben an sich selbst zurück zu gewinnen.
In einer kranken Gesellschaft wie dieser schon ein weiter Weg und ein erster großer Erfolg, denn hier leben und arbeiten viele kranke Menschen, krankgemacht durch den Spagat zwischen Schein und Sein, verätzt vom Gift des Selbstzweifels. Und dabei ist völlig gleichgültig, welchen Beruf sie gerade ausüben.

Nebenbei bemerkt: Auch Kontrollverlust ist eine Illusion,die sich nur aus dem Glauben daran speist, sofern die Verhältnisse nicht tatsächlich von kriegerischem Durcheinander nackter Gewalt geprägt sind.
In Gesellschaften ohne solche kriegerischen Auseinandersetzungen können wir uns an jedem Tag selbst entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen.

Dazu gehört auch die Freiheit den Weg jederzeit korrigierenzu können.“

Ein kurzes Schweigen trat wieder ein, in dem der Blickmeines Gegenüber freundlich auf mir ruhte:

„ Kennen Sie das Gleichnis vom Esel?“ fragte er mich.

„ Ich bin nicht sicher, erzählen Sie bitte.“

„Ein Vater ging mit seinem Sohn in die Stadt, um einen Esel zu kaufen.
Auf dem Heimweg führte der Vater den erstandenen Esel, während sein Sohn auf dem Esel ritt und vor Freude dabei gluckste.
Das Wetter war schön und der Himmel in das strahlende Blau eines Sommernachmittagesgetaucht.
Auf dem breiten Weg kam Ihnen ein Wanderer entgegen.
Als er auf der Höhe des Vaters angekommen war, grüßte er.
Vater und Sohn erwiderten den Gruß.
Der Mann blieb stehen und wandte sich an den Vater: „ Einen schönen Esel, den ihr da habt“.
„ Ja, wir haben ihn gerade gekauft“ freute sich der Vater über das Lob.
„ Jetzt sind wir auf dem Weg nach Hause“.
Der Fremde nickte und wandte sich an den Sohn:
„ Und Du, schämst Du Dich nicht, faul und bequem mit Deinen jungen Beinen auf dem Esel zu sitzen, während Dein alter Vater nebenher zu Fuß nach Hause laufen muss?“
Der Sohn schämte sich, während der Vater mit dem Daumen seiner linken Handnachdenklich über sein Kinn strich.
„Sie haben recht.
Steig ab“, sagte er zu seinem Sohn gewandt.
Der Sohn stieg ab und der Vater stieg auf.
Der Fremde nickte und verabschiedete sich.
Nun führte der Sohn den Esel, während der Vater auf dem Tier ritt.
So trotteten sie eine Weile unter dem blaugoldenen Sommerhimmel dahin, als nach einer Weile hinter einer Biegung des Weges erneut ein Wanderer auftauchte:
„ Grüß Gott“
„Grüß Gott“, erwiderten auch Vater und Sohn.
„ Da habt ihr aber einen sehr schönen Esel“, wandte sich der Fremde an den Vater.
„ Ja, danke“ freute sich der Vater erneut, „ wir haben ihn gerade in der Stadt gekauft, und jetzt sind wir auf dem Heimweg“.
Der Fremde nickte.
„ Aber,“ wandte er sich an den Vater:
 „Schämt Ihr Euch denn nicht, kräftig wie ihr seid, bequem  auf dem Esel zu sitzen, während Euer kleiner Sohn hier mit seinen kurzen jungen Beinen nach Hause laufen muss und mit dem Esel da kaum Schritt halten kann?“
Der Vater stutzte, schämte sich und strich mit dem Daumen seiner linken Hand wiederumsehr nachdenklich über sein Kinn.
„ Sie haben recht,“ sagte er.
Er stieg ab, und sagte, zu seinem Sohn gewandt.
„Geh du auf die andere Seite.“
Sie verabschiedeten sich von dem Wanderer, und gingen auf ihrem Weg weiter.
Der Vater führte nun den Esel auf der rechten Seite, der Sohn lief auf der linken Seite nebenher.
So gingen Sie weiter in die untergehende Abendsonne hinein, während sie nun beide neben dem Esel herliefen, den Sie doch eigentlich gekauft hatten, um darauf zu reiten und mit ihm Lasten zu befördern.
Hinter einer Wegbiegung, von Heckenrosen gesäumt, kam Ihnen erneut ein Wanderer entgegen.
Er blieb vor der kleinen Gruppe stehen, grüßte und wandte sich an den Vater:
„ Was für ein schöner, kräftiger Esel, den ihr da habt“.
Der Vater bedankte sich: „Wir haben ihn heute in der Stadt gekauft, um darauf zu reiten und dass er unsere Lasten trage, und jetzt sind wir auf dem Weg nachHause.“
Der Fremde nickte, seine Mundwinkel begannen zu zucken und er begann, zunächst ein wenig verhalten, zu lachen:
„Und warum trottet ihr beide dann neben diesem Esel her, der doch dazu da ist, das man auf ihm reitet und er Lasten trägt?
Oder habt Ihr etwa den Esel gekauft, um ihn in der warmen Sommersonne spazieren zu führen?“
Er lachte lauthals über die verdutzen Gesichter von Vater und Sohn, schüttelte den Kopf und verabschiedete sich:
„ Nichts für ungut, und kommt gut nach Hause“, und noch eine Weile lang hörten Vater und Sohn in ihrem Rücken ein lautes Lachen sich entfernen.“

„Und die Moral von der Geschicht?“ fragte ich mein Gegenüber

„Ist die, die Vater und Sohn daraus machen,“ bekam ich zur Antwort.

Ich sah mein Gegenüber an:

„ Sie meinen aber eigentlich: Man muss im Leben seinen Weg gehen und nicht den der anderen.“

„Ja, natürlich“, entgegnete mein Gegenüber. „ Und keine Angst vor den Konsequenzen der eigenen Handlungen haben.“

Wieder trat ein kurzes Schweigen ein, die untergehende Sonne wärmte mich.
Ich wandte meinen Kopf wieder nach rechts, dem Fenster zu, hin zu den alten Linden, zwei Sommerlinden und zwei Winterlinden,  und betrachtete die Wolken darüber, dieblassblau mit weißen Watterändern umsäumt,  nach Westen hin in den Abendhimmel der untergehenden Sonne hinein zogen.

Eine Weile folgte ich den Wolken auf ihrem Weg nach Westen.
Dann wandte ich mich wieder meinem Gegenüber zu.

„ Bitte entschuldigen Sie, dass ich meinen Gedanken nachhänge, während Sie mirgegenüber sitzen, Verzeihung“.
Mein Gegenüber schüttelte den Kopf: „ Entschuldigen Sie sich nicht“.

Ich holte tief Luft:
„Ich weiß, dass es richtig ist, nach dem Guten zu streben, und auch danach zu leben; auf das zu hören, was man im Innersten weiß.
Und egal, was immer auch geschieht, alles hat zwei Seiten. Jedes Ereignis, das uns zunächst nur negativ erscheint, bringt uns auch eine positive Erkenntnis, wir müssen sie nur erkennen, so wie im Dunkel das Licht.
Aber ich bin nicht mehr so naiv wie früher, zu glauben, es würde reichen, wenn man selbst nur mit ausgestreckten Händen auf andere zuginge, um das Gute in die Welt zu bringen.
Das allein genügt nicht.
Sondern im Gegenteil, für manches Gegenüber erscheint das oft nur als Aufforderung, zu nehmen, und wird als Schwäche interpretiert.
Die Veränderung eines Systems hängt auch vom jeweiligen Systemzustand ab.
Danach muss die Strategie der Veränderung gewählt werden.

Ohne zutreffende Istanlyse des Systems und ohne klare Definition des Ziels, das erreicht werden soll, gibt es keine erfolgreiche Sollerreichung.

Und noch etwas ist ebenso wichtig.
Das jedes Teilchen in diesem System erkennt das es eine Doppelfunktion hat; als einzelnes Teilchen und damit aber gleichzeitig auch als Bestandteil des Systems.
Das tagtäglich durch seine Entscheidungen und sein Verhalten mitentscheidet, in welche Richtung sich das System bewegt und ob es in der Waage bleibt.

Handeln ist für die Bewegung und den Zustand des Systems genauso ursächlich und gleichwertig wie Schweigen, Nichtstun, oder in Frustration zu erstarren.
Jede dieser täglichen Willensentscheidungen jedes einzelnen Teilchens des Systemsdefiniert erst das Ganze, und bestimmt seine Richtung.

Unrunder Kreis, wie Schnee so weiß.
Ändern Farbe sich und Form“, wiederholte ich, „ ich verstehe.“

Wir schwiegen beide wieder, während eine weitere Erkenntnis in mir immer deutlichere Konturen annahm, bis ich sie endlich in  Worten aussprechen konnte:

„Es genügt nicht nur, die richtigen Werte zu erkennen, im Alltag  danach zu leben und  auch nach scheinbaren Rückschlägen  daran zu glauben, auch wenn viele andere umeinen herum das Gegenteil  tun.
Man muss sich dessen bewusst und auch wachsam sein, dass das eine tägliche, immer neue und andauernde Aufgabe ist.
Dass das Gute in einem nicht zugunsten kleiner, falscher und alltäglicher Kompromisse allmählich einschläft, bis es nur noch als der dumpfe, verbitterte Nachhall unerfüllter Ziele und eines schlechtes Gewissens existiert. Jeder kann nur selbst seine eigene, tägliche Vergewaltigung beenden.“

„Ja“, führte mein Gegenüber meine Gedanken fort:
„Es reicht nicht, ein Haus nur zu bauen.
Man muss es auch pflegen.
Das schönste Haus verkommt und wird letztendlich einstürzen, wird es schlecht behandeltund vernachlässigt.“
Mein Gegenüber lächelte wieder, es schien mir: noch eine Spur wärmer, soferndas überhaupt noch möglich war.
Und fuhr fort:

„Jedes System verändert sich.
Beständig.
Das ist gut so, es verändert sich, weil das Leben täglich neue Anforderungenstellt.
Kein System ist statisch, allenfalls erstarrt.
Und ein guter Systemstart ist immer nur der erste Schritt.
Der weitaus wichtigere ist, dass das  System von allen Teilchen jeden Tag auf dem richtigen Kurs gehalten wird  auf derBasis der richtigen Werte.“

„Je mehr ich verstand, desto mehr wollte ich nun wissen.

Mein Auftrag - ich kam der Erfüllung meines Auftrages immer näher, mein Gegenüber half mir dabei.

„ Drei Fragen möchte ich Ihnen jetzt stellen“ nahm ich das Gespräch wieder auf.

„Was passiert mit dem System wenn die einzelnen Teilchen unterschiedliche Werte und damit Zielrichtungen haben?
Das ist doch als hätte ein Fahrzeug zwei Motoren, der eine fährt nach Osten,der andere zieht nach Westen.“
„ Nun, was passiert dann?“ lautete die Gegenfrage.
„Ja“, ich zögerte, „Stillstand, oder, die stärkere Zugrichtung entscheidet“.

„Unter Umständen“, erwiderte mein Gegenüber.
Ob Stillstand, ob Ost oder West, Süd oder Nord; das hängt ganz von der Zusammensetzung der Teilchen des Systems ab, deren „Ladung,“ also ihren Werten, und von der Energie, mit der sie ihrem Weg im System folgen.“

„Sie meinen zum Beispiel Gesellschaften, deren homogene Wertestruktur sich auflöst, weil sich darin andere Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Religionen niederlassen, Einwanderungsgesellschaften also.“

Mein Gegenüber nickte:
„ Zunächst zum einen: All die Jahrhunderte hindurch waren letztendlich fast alle größeren Gesellschaften Einwanderungsgesellschaften.
Völkerwanderungen gibt es schon seit Jahrtausenden von Jahren. Die wenigsten Gesellschaften blieben über einen längeren Zeitraum hinweg statisch.
Zum anderen bedenken Sie auch: erkennt nicht jede Religion, jede Kultur die gleichen guten Grundwerte und Regeln menschlichen Miteinanders an wiebeispielsweise:
„Du sollst nicht töten, Du sollst den anderen Menschen achten und nicht betrügen. Ehrlich, weise und aufrecht den Lebensweg gehen, und sich immer dessen bewusstsein, dass jeder einzelne Mensch immer auch ein Teil des größeren Ganzen ist.
Sind nicht nur die Formen der Ausübung dieser für jede Gesellschaft grundlegenden  Werte unterschiedlich?
Nur diese unterschiedlichen Formen müssen respektiert werden, die Basis ist immer dieselbe.
Es kommt nur auf den Inhalt, und nicht auf die Verpackung an.
Jeder Mensch hat eine eigene Identität und das Recht auf deren Achtung und geistige und körperliche Unversehrtheit.
Denken Sie zum Beispiel nur an Ihren Dichter Lessing, er hat das, wie viele andere vor ihm auch schon, beschrieben in seinem Stück „ Nathan der Weise“.
Ihre Mutter, ihre vielleicht persische Freundin, ihr Lebenspartner, ihre Kinder, alle haben eine andere Identität als sie, denn sie sind mit anderen Bildern,anderen Geschichten, anderen Menschen, in einer anderen Umgebung aufgewachsen als sie, auch mit anderen Gefühlen wie beispielsweise Hunger oder Todesangst,die sie vielleicht gar nicht kennen.
Jede Gesellschaft hat ihre Leitwerte. Auf der Handlungsebene darunter gibt esdie Verhaltensmuster und Kodizes dazu, die normierten und die normativ-faktischen Muster und Regeln, die tatsächlich gelebt werden.
Ein achtungsvolles Miteinander erkennt man auch daran, ob Identitäten die nichtdiesen herrschenden, gelebten Mustern entsprechen, geachtet und anerkanntwerden.
In dogmatischen und narzisstischen Gesellschaften werden Menschen mit anderenIdentitäten nur vordergrundig geachtet; in Wirklichkeit aber geächtet,ignoriert, verletzt, beleidigt oder getötet.
Eine menschliche und lebenswerte Gesellschaft schätzt alle Menschen, die jaschließlich alle aufgrund ihres Alters, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrerSprache und ihres Kulturkreises unterschiedliche Identitäten haben, undinteressiert sich auch für die jeweils  andere Identität, ohnesie nur wegen Ihres Andersseins abzulehnen.
Und so wandelt sich eine Gesellschaft auch allmählich und ständig.
Zum Guten hin, wenn die unterschiedlichen Menschen ihr Anderssein als Chance begreifenund voneinander lernen. Zum Schlechten hin, wenn das Anderssein abgelehnt undfür die Erreichung eigener, unlauterer Zwecke missbraucht wird.“

„Ja aber“, wollte ich unterbrechen.

Mein Gegenüber hob jedoch die Hand und winkte leicht ab.

„Nicht so ungeduldig, lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber weitersprechen.
Stellen Sie Ihre nächste Frage.“

„Wie kann man das System wieder in die richtige Richtung bringen, wenn die Teilchendarin gleichzeitig nach Süd und Nord, Ost und West drängen?“

„Auch dazu später, jedoch vorab so viel: die Lösung liegt auf der Hand.
Und die dritte Frage?“

Ein leichter Anflug von Ärger stieg in mir auf, aber ich beherrschte mich,indem ich mich auf die dritte Frage konzentrierte:

„Wie erkennt man, dass ein Flugzeug trudelt?“
Mein Gegenüber übersetzte:
„ Sie meinen eine Gesellschaft in Auflösung, nicht wahr?
Auch das wissen sie bereits:“

„Ja, solche Gesellschaften haben das Janusgesicht.
Das Janusgesicht  der Mildtätigkeit, dergeheuchelten Demut mit den Schwachen und Armen, die mit öffentlichen Fütterungen im Zustand der Unfähigkeit und trägen Verantwortungslosigkeitgehalten werden, wie Tiere in einem Zoo.
Und der Verlogenheit.
Je abstrakter die Gesellschaft und deren Strukturen, umso einfacher ist es ,die Verantwortung für das eigene Handeln auf die anderen und „ das System“  abzuschieben.
Solche Gesellschaften bestehen im Übrigen auch aus einem Kastensystem:
Die Kaste der Fütterer, die   ihr Selbstwertgefühl aus dem Dank derGefütterten speist, interessanterweise, ohne die erforderlichen Mittel, die sieverteilt, selbst erwirtschaftet zu haben.
Und diese  Kaste  im System nährt  sich von der demütigen und unwürdigenDankbarkeit der Gefütterten, einer anderen Teilmenge im System, die dieSpielregeln verstanden hat und weiß, was von ihr erwartet wird und deshalb auchdie unausgesprochenen Erwartungen von Demut und Dankbarkeit  apathisch und antriebslos während derFütterung befriedigt.
Allerdings begleitet von ungesunden Gefühlen wie Hass, Neid und Demütigung, die während des Aktes der Fütterung selbstverständlich nicht offen geäußert werden.
Diese Kaste der Gefütterten verbringt überdies sehr viel Zeit mit dem Erfinden und Entwickeln von Gründen für das Entstehen und die Aufrechterhaltung ihrer jetzigen Situation. Wobei sie aber auch hier einige Menschen in unverschuldeter Notlage finden.
So nährt sich in diesem Spiel mit vollkommen verkehrten Regeln jede Kaste von der anderen auf ungesunde Weise, und keine dieser Teilmengen hat so scheinbarein Interesse an der Auflösung dieses Zoos.
Der Mensch ist seinen bekannten Mustern verhaftet, mögen sie auch noch so schädlich für ihn sein.
Und die meisten versuchen an ihrem Platz das Beste zu tun - weil jeder Mensch auch die Zuwendung des anderen benötigt  - sie verlieren sich aber im Detail ihres Lebens, weil sie das Ganze, ihren Anteil im System, nicht erkennen und begreifen wollen.
Dabei wäre das so einfach: Sie müssten sich nur von den gerade aktuellen, ihnen anerzogenen, hinderlichen Mustern lösen.
Ich komme auf unser Beispiel der beiden Kasten zurück: Fütterer und Gefütterte.
Beide Gruppen sind an ihrem Platz in der Gesellschaft gleichermaßen ängstlich und genauso bequem den alten Mustern verhaftet, die Ihnen den Weitblick über den Horizont nehmen.

Charityworld.“

Wir schwiegen beide einen Moment. Dann begann mein Gegenüber erneut:

„ Eine Gesellschaft mit Janusgesicht leistet sich auch stets eine Nebelkaste.
In jedem Jahrhundert.“

„Eine Nebelkaste“, ich sah mein Gegenüber fragend an, „ was ist das?“

„ Diese Kaste handelt in Vertretung der tatsächlich Mächtigen in einer Gesellschaft. Sie erschafft und unterhält permanent die Gründe dafür aufrecht,warum das, was ist, so sein muss, wie es ist. Sie liefert  für die vielen, die eigentlich keinerlei Grund haben, auszuhalten, die Begründung dafür, weshalb sie aushalten sollten undverschafft ihnen auch gleichzeitig eine facettenreiche Palette der Ablenkungaus ihrem tristen Dasein.
Sie bietet all das zunächst nur an - als Versuch - ob es mit diesem Angebot der Verdrehung der Realität gelingt, den eigenen Vorteil als den der Übervorteiltendarzustellen.
Als Lohn dafür wird ihr ein relativer, eigener Wohlstand und Sicherheit der eigenen Existenz garantiert, und sie darf ein wenig am Glanz des Geldes und desWohlstandes der Reichen und Mächtigen teilhaben.
Und ganz Wenigen gelingt ja tatsächlich auch der Aufstieg und die Durchdringung der Kasten bis hin zu den Mächtigen.
Das treibt sie vorwärts: dorthin zu gelangen, um dadurch endlich allen Demütigungen und Verletzungen zu entgehen.
Sie glauben fälschlicherweise und vordergründig richtig, nur so hätten könnten sie Macht und Selbstbestimmung über ihr Leben erreichen.
Priester aller  Religionen, Politiker, Berichterstatter und Berater aller Farben, alle Menschen, die Positionen besetzen, die man im Laufe des Erziehungsprozesses der Jungen mit der Projektion aller guten Werte ausgestattet hat, so dass die Illusion den wirklichen Menschen dahinter im rosigen Seidenglanz vermeintlicher Wahrheit erscheinen lässt, spielen dieses falsche Spiel, so, als wären sie darin gefangen wie ein Insekt im Netz der Spinne.
Zu den Regeln dieses Spiels gehört es auch, um die Illusion der Richtigkeit aufrecht zu erhalten, dass gelegentlich einer der Illusionisten, der zuungeschickt oder zu dreist betrügt, als das entlarvt wird, was er tatsächlichist, dass man ihm seine Maske vom Gesicht reißt und dahinter vielleicht eine  hässliche Fratze zum Vorschein kommt.
Für die Gesellschaft ist damit die Glaubwürdigkeit und Richtigkeit des Systems wieder hergestellt.
Denn diese gelegentlichen Entlarvungen liefern ja scheinbar den Beweis dafür, dass das System im Grunde richtig ist und über die erforderlichen Selbstreinigungskräfteverfügt.
So wird auch nicht weiter das grundsätzlich Falsche dieses Systems in Frage gestellt.“
„ Das stimmt,“ fuhr ich fort:
„Das Ergebnis sehen Sie heute: Die Kaste der Mächtigen in Ihrem Land, die im Übrigeninfolge der Bildungsreformen, die Mitte des letzten Jahrhunderts in Ihrem Land begannen, auch viele sogenannte Aufsteiger von ganz unten und quer durch alle Kasten beinhaltet, wurde während der letzten zwanzig Jahre immer dreister.
Und  die Aufsteiger darin, Wandererzwischen den Welten, die es eigentlich besser wissen müssten,  hatten einen unerhörten Appetit auf  Positionen und Kapital, die es ihnen wenigstens äußerlich ermöglichten, in ihrer neuen Heimat des Reichtumszumindest geduldet zu sein, und den Problemen und Demütigungen der Kindheit so scheinbar entkommen zu sein.“

Ich schwieg und mein Gegenüber fuhr fort:

„So wurde die Art und Weise der persönlichen Kapitalbeschaffung immer dreister.
Parallel dazu nahm die Erkenntnis zu, dass die vorsätzlich und fahrlässig herbeigeführten Schäden an der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern völlig ohne persönliche Konsequenzen für den Verursacher blieben, und dass ab einergewissen Position in einer Hierarchie vollkommene Narrenfreiheit, gepaart mit finanzieller Selbstbedienung, garantiert sind. So wird die Verursachung von Schäden an den Rechtsgütern anderer Menschen, deren Gesundheit, Eigentum oderVermögen zu einem relativ gefahrlosen Spiel für den Spieler.
Dessen Regeln könnten zwar alle ändern.
Aber nur der Geschädigte hat ein primäres Interesse daran, die Regeln so zu ändern,dass auch er ein menschenwürdiges Leben führen kann. Nur, er tut es in der Regel nicht, da er sich allein, hilflos und ohnmächtig wähnt. Und der scheinbare Gewinner ignoriert seine tiefe Erkenntnis, welchen Preis er bezahlen muss, solange es geht. Ein Getriebener der eigenen Schwäche.“

Mein Gegenüber schwieg einen kleinen Moment.
„ Verzeihen Sie, nun habe ich einen scheinbar sehr weiten Bogen gespannt.“
Er lächelte: „ Um ein Wort des von Ihnen so geschätzten Theodor Fontane aufzugreifen: „ Das ist ein weites Feld“.
Der Mensch versucht in Regeln, in ihrem Jahrhundert zusätzlich in elektronischgespeicherten Daten und Papier in der Außenwelt zu kodifizieren undfestzuhalten, was er in seinem Inneren fühlen und leben muss.
Um also an ihrer vorherigen Frage, die Nebelkaste betreffend, wieder anzuknüpfen“, fuhr mein Gegenüber fort:

„Verlässt der Mensch die Institutionen, in denen er erzogen wurde, hat er, sofern er aufgrund der Ärmlichkeit oder der moralischen Verkommenheit  seines Elternhauses nicht schon als Kind  ein Zuviel an gesellschaftlicher Realitätohne Netz und doppelten Boden kennengelernt hat - das komplette Illusionsmuster gelernt; nämlich alle guten Werte und positiven Erwartungen auf diese Machpositionen im System zu projizieren, und damit auf den Fleisch gewordenen menschlichen Inhaber der jeweiligen Position – mag dieser auch als Mensch noch so unfähig oder moralisch zweifelhaft sein.“

„Nun kein Wunder,“ fuhr ich fort, „ ein solches System, das durch  seine Profiteure agiert, ahndet ja bereits dieklare Sicht der Fakten als Meuterei und stellt sie, beispielsweise in Form  diverser Vertraulichkeitsvereinbarungen, unter Strafe.“

Mein Gegenüber nickte:

„Ein Kaiser ist ein Kaiser ist ein Kaiser.
Ein Präsident ist ein Präsident ist ein Präsident.
Und so weiter.

Die jeweiligen Namen in den Hierarchien spielen keine Rolle, im Verlauf der Jahre wechseln sie ohnehin ständig.
Hat man einem jungen Menschen erst einmal den Glauben an die Eigenverantwortung genommen, und durch den Glauben an ein abstraktes, hierarchisches System und dessen  Protagonisten ersetzt, so ist damit bereits die Basis für eine grundlegend falscheWeichenstellung geschaffen.
Die sorglos naive Abgabe der Eigenverantwortung - sowohl der geistigen als auch der politischen - an Institutionen, hinter denen immer auch nur Menschenstehen, die mit illusionär virtuell positiven Werten ausgestattet sind, muss der Abgebende teuer bezahlen. Und auch, dass er jegliche Qualitätssicherung und Kontrolle unterlässt, die sicherstellt, dass der temporäre Inhaber der Institution auch den Ansprüchen und Aufgaben gerecht wird, für die er bezahlt wird.
Der Preis ist immer hoch: Im weniger schweren Fall  der Verlust des eigenen , über Jahre  hin erwirtschafteten Geldes bis hin zum Verlust des Lebens im Kriegsfall.“

„Und dadurch zementieren alle Menschen  die  Ausrichtung des  Systems zu ihrem eigenenSchaden“, fuhr ich fort, und fragte weiter:

„ Und wollen  Sie damit auch sagen, das  an den Universitäten nur Unsinn gelehrt wird?“

„Nein, natürlich nicht nur, aber vielfach auch.
Im Übrigen: Es gibt Disziplinen, die auf Fakten beruhen, undgesellschaftsübergreifender sind als andere, wie beispielsweise Physik, Mathematik oder Chemie.
Fächer also, die nachweisbarere Ergebnisse liefern; die jedoch in der Regel genauso auch einer gesellschaftlichen Wertung unterliegen. Krankheiten beispielsweise entstehen in der Regel immer in einem bestimmten, gesellschaftlichen Kontext.
Und es gibt Disziplinen, die  sich mit dengerade herrschenden gesellschaftlichen Werten und Zuständen beschäftigen,werterhaltend oder kritisierend, beide Fraktionen großzügig alimentiert voneiner Gesellschaft, die die Verantwortung für ihren eigenen Verstand und ihr eigenesHandeln an die sogenannten Experten abgegeben hat.
Aber Geduld, mit all dem befassen wir uns später noch detaillierter.
Momentan kommen wir jedoch vom Hundertsten ins Tausendste. “

„Ja, sie haben recht“, erwiderte ich.
„ Alles gehört zusammen.
Jedes kleine Teil ist Bestandteil eines größeren Ganzen.

Und Dummheit, das ist nur die fehlende Erkenntnis davon.“

Wir schwiegen beide wieder.
„Nur so viel noch, das muss ich noch sagen,“ nahm ich das Gespräch wieder auf:
„ Die Sklaverei hat nur ihr Gesicht verändert – über all die Jahrhunderte.
Abgeschafft ist sie noch lange nicht, weder hier noch in den anderen Kontinenten, die bis heute von den Folgen des westlichen Kolonialismus verwüstet werden.
Kolonialismus - in politischer oder wirtschaftlicher Form neben dem Krieg die primitivste Art mit anderen Menschen, deren Vertrauen und Gutgläubigkeit man ausnutzt, umzugehen:
Eine Allianz aus Dummheit und Eitelkeit, der der rote Teppich ausgerollt wird auf der einen Seite und Gier und Verbrechen auf der anderen Seite.

Rom, Amerika mit seinen Südstaaten, Russland, Afrika, Indien, Hardenbergsche Reformen, China, England, Mesopotamien, eine unendliche Geschichte.

Aber dennoch, wir sind auf dem Weg.
Aber noch näher an Neandertal als an Eden.
Mit einem Bein stehen wir noch immer fest als Neandertaler in unseren dunklen Höhlen.
Es ist an der Zeit, die Angst loszulassen und die Höhle zu verlassen.
Geistige und körperliche Gesundheit sind zwei Münzen einer Medaille, auch das ist nicht wirklich Neues.

Mens sana in corpore sano.

Brot stillt den ersten Hunger, macht alleine jedoch auch nicht satt.
Der Garten Eden ist so leicht zu erreichen, wie Sie vorhin gesagt haben.
Und der wirkliche Fortschritt besteht nicht darin, auf einen Nachbarplaneten zufliegen, Erzeugnisse von computergesteuerten Robotern in fast menschenleeren Fabrikhallen herstellen zu lassen, oder auf zentralen Rechnern und in zentralen Datenbanken immer mehr Daten zu sammeln und zu speichern und in dieser Informationsflut zu versinken und zu ertrinken.
Immer mehr zu konsumieren, das man eigentlich gar nicht braucht, und dann immer mehr Schränke zu kaufen, um all den überflüssigen Kram dort hinein zu stopfen.
Sondern darin, die Existenzgrundlage für den Menschen - materiell und ideell – maßvoll Tag für Tag zu erarbeiten und zu sichern, statt wie irrsinnig immer schneller um das goldene Kalb herum zu tanzen.“

Wir schwiegen beide.
Eine Weile.

„Ich will ein Resümee ziehen“, fasste ich das Gesagte zusammen:

Man muss die grundlegenden Regeln des Lebens begreifen.
Dann steht man an dem Scheideweg, welchen Werten und damit welchem Weg man folgenwill.

Den guten Werten: nur scheinbar ein steiniger Weg.
Oder den schlechten mit dem schnellen Geld ? Wobei es ja eigentlich in  Wirklichkeit gar nicht um das Geld geht, sondern nur um das, was man sich ineiner verkehrten Gesellschaft dafür kaufen kann.
Beides führt momentan zu demselben Ergebnis: In einer Gesellschaft mit dem zweiten Gesicht zu leben, die in der Agonie ihrer Unfähigkeit, Kurzsichtigkeit,dem Egoismus und der Habgier  von Individuen versinkt,  die hinter der Maske, dem öffentlichen Wohl zu dienen, ausschließlich die Befriedigung ihrer eigenen,unerfüllten Wünsche und Triebe suchen.
Das sind die als Kind zu Kurzgekommenen, die Demütigung, Verletzung, Schmerz, Wut und Hass aus ihrer Kindheit, ohne erwachsen zu werden, in Ihre späteren Jahre mitnehmen.
Die nur körperlich wachsen und groß werden, ohne dass Verstand und Moral damit Schritthalten würden.

Ausgehungert nach Postionen der großen und kleinen Macht, die sie selbstsüchtig benutzen, um ihren Hunger nach Anerkennung zu stillen und sich für Verletzungen der Kindheit zu rächen.
Sich verändernde und auch statische Gesellschaften gewähren immer dieser Species Raum, genau so, wie jede Revolution das unterste nach oben spült.

Was allerdings in statischen Gesellschaften als „ oben“ betrachtet wird, ist nicht deshalb  besser, weil zwei, drei oder mehrere Generationen im Kampf des Überlebens  zuvor anderen das weggenommen  haben, was diesen zusteht, und durch diesen annektierten Wohlstand den Kampf des Überlebens von ihren eigenen Kindern genommen haben.“

Nur das Verrinnen der Zeit adelt das frühe Verbrechen.
Ich hielt einen Moment inne.

„Ja“, fuhr ich fort, „ der Mensch beweist sich erst, wenn er mit Anstand sein Dasein bestreiten muss – ohne Netz, doppelten Boden, und ererbten Wohlstand, auf dem es sich leicht ausruhen und in schönen Worten Lebensregeln und Mildtätigkeit  für all die anderen in  engen Verhältnissen predigen lässt.
In einem weichen Bett lässt sich gut schlafen.“

Wir schwiegen beide erneut, diesmal etwas länger.

Mein Gegenüber nahm das Gespräch mit seiner warmen Stimme wieder auf:

„Für heute genug geredet, lassen Sie uns das Gespräch ein anderes Mal fortsetzen.
Außerdem: Den Worten müssen Taten folgen, sonst sind sie so wertlos wie ein taumelndes Blatt im Herbstwind.
Allerdings hat auch das einen Nutzen.“

„Ja, Sie haben recht. Aber ich danke Ihnen, Sie haben mir wieder Hoffnung, Ruhe und Rückhalt gegeben. Ich war so verzweifelt und alles schien so sinnlos.
Ich weiß, wir können anders zusammenleben.“
Besser.
Einfacher.
Ehrlicher.
Vom Ich zum Wir, stets bewusst des Ich und des Wir.
Nur das kann uns von den Jahrhunderten, die vergangen sind, für eine bessere Zukunftunterscheiden.

Das Ich allein führt ebenso in den Abgrund und in die Hölle wie das Wir allein.

Wenn  wir das Ich zum Wir überwinden und erweitern - zu einem eigenverantwortlich handelnden, freundlichen,  gütigen und verständnisvollen Wir - das nach vorne sieht und sich täglich den Anforderungen des Heute für das Morgen stellt,dann schaffen wir die Basis für eine bessere Gesellschaft.“

„ Eine interessante Darstellungsvariante einer Systemtheorie, aber in dieser Variante der Betrachtung ebenso zutreffend.
Wie bereits gesagt: Jedes System ist änderbar.
Die Veränderung oder Gegenbewegung kann es zerstören, oder zu einem anderen System mutieren lassen.
Die Richtung und der Weg hängen von der Entscheidung jedes einzelnen Teilchens und deren Mehrheitsverhältnissen im System ab,“ kommentierte mein Gegenüber meine Worte. Und fügte hinzu:

„Folgen Sie in dieser schweren Zeit Ihrer Intuition.
Sie wird Ihnen den richtigen Weg weisen. Vertrauen Sie sich. Sie wussten immer schon, was richtig ist. Nur aus Angst und aus den falschen Gründen haben sie immer wieder gegen Ihr besseres Wissen und zu Ihrem eigenen Nachteil gehandelt.
Denken Sie an den Traum Ihrer Kindheit zurück, den Sie immer wieder träumten:
Als sie auf dem Rücken dieses großen, schwarzen Vogels weit oben über die Wälder und die Länder flogen – ganz sicher, ohne jede Angst und voller Freude.“

Ich nickte.
Irgendwann einmal hatte ich ihn nicht mehr geträumt, diesen Traum. Aber ich konnte mich an jede einzelne Sekunde darin erinnern.

Schweigen trat ein.

Ein Schweigen, von dem ich aufwachte.

Ich schlug meine Augen auf, mein Kopf lag noch immer auf meinen verschränkten Armen.
Mein Blick fiel auf die Bücher, die in dem geschnitzten alten Bücherschrank gegenüber standen.
Ich hob den Kopf.

Die beiden schwarzen Lederstühle für Besucher, die gegenüber von meinem Schreibtisch standen, waren leer.

Niemand saß dort.

Ich war wieder alleine in dieser Kälte, ich hatte alles nur geträumt.

 

....................................

 

Kapitel 2

Das alles sollte ich jetzt gar nicht denken.
Aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Ich sehnte mich so danach, einem weisen, gütigen Menschen der einfach nur zuhörte, so wie meine Traumgestalt, einmal alles anzuvertrauen, ohne dass das  Gesagte lediglich als Reflexionsbasis mit vermeintlichen Wiedererkennungswert für  die eigenen  Erfahrungen registriert wurde.
Und  ohne Bewertungen und Ratschläge, die nur  der Situation des Bewertenden gerecht werden,  aber nicht der des Ratsuchenden.

Mehr erwarte ich nicht.

Keiner kann vom anderen die Lösung seiner Probleme erwarten.
Aber doch vielleicht wenigstens Anteilnahme und  eventuell auch ein wenig Hilfe zur Selbsthilfe ?

Wenn ich in der Vergangenheit manchmal tatsächlich andeutungsweise bei unserer Verwandtschaft und meinen Freunden darüber sprach, wie die  Dinge hier wirklich lagen, so sickerte  das Gesagte in der Infrastruktur meiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft sukzessive und unerbittlich durch, so wie Regen durch ein undichtes Dach.
Und als einziges Ergebnis erntete ich oberflächliche Kommentare und ebenso unpassende Ratschläge, mit jeweils gehetztem Ausdruck in Stimme und Gesicht, gehetzt und ängstlich, dass ich nun möglicherweise einmal etwas verlangen und um Hilfe bitten könne.
Dass man gegebenenfalls selbst einmal nachdenken sollte, über die verzweifelte Situation eines Menschen in der eigenen Nähe.
Ich hatte genug von diesen betretenen Gesichtern, genug von ihren falschen Mitleidsbezeugungen. Genug, diese hilflosen und oberflächlichen Menschen in meiner Situation auch noch trösten zu müssen. Genug, ständig Stärke zeigen zu müssen, damit ich mir und ihnen ihre fadenscheinigen und hilflosen Kommentare ersparte und sie nicht noch mit meiner  eigenen Not in Verlegenheit brachte.
Einfach genug.

Der Mensch scheint nichts so sehr zu fürchten, wie einen anderen Menschen in seiner Nähe, der ein ernsthaftes Problem hat.
So muss der Teufel wohl das Weihwasser fürchten.

Vielleicht einer der Gründe  für  die Institution der Beichte in der  katholischen Kirche, zumindest theoretisch. Wie so oft sieht die Praxis ganz anders aus.
Wenn schon keine Hilfe, dann wenigstens einmal sich erleichtern können von einer Seelenlast, jahrelanger unterdrückter Seelennot, oder ein bisschen Erleichterung finden in einer verzweifelten Situation.
Und in der Hoffnung, irgendwo einmal echtes Verständnis zu finden, und sicher zu sein, dass das Gesagte vertraulich blieb.

Meine Gedanken fuhren Karussell.
Ich saß vor diesem Gutachten, das fachlich kein Problem für mich war, wohl aber die Infrastruktur der gesamten Jauchegrube darum herum.
Und ich konnte mich einfach nicht überwinden weiterzuarbeiten.
Ich stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.
Ich war kurz davor, dass mir alles egal wurde, alles den Bach hinunterging, alles, was ich jahrelang aufgebaut hatte.
Immer hatte ich mich angestrengt, mein ganzes Leben lang. Und dabei sehr selten  an mich gedacht, immer nur an die anderen, und dass es ihnen gut ging. Nichts als Undank hatte ich geerntet. Und immer unverschämtere Forderungen.

So fühlt man sich allein in der Kälte der eigenen Not, in eisiger Verzweiflung.
Wie gut ich meine Großmutter heute verstehen konnte.
Heute verstand ich, was sie damit gemeint hatte:

„ Das Leben ist wie eine Hühnerleiter, man kommt vor lauter Dreck nicht weiter.“

Hatte ich ihr denn damals nicht zugehört? Doch, aber ich hatte sie nicht verstanden, nicht verstehen können, nichts begriffen.
Konnte sie noch nicht begreifen, denn ich war eine Närrin gewesen, damals, den Kopf voller Gutmenschflausen.

Ich hatte meine Großmutter immer Mutti, nie Großmutter genannt. Das führte oft zu Erstaunen bei Menschen, die unsere Familie nicht kannten, denn ich hatte wohl offensichtlich zwei Mütter.
Tränen und Schmerz stiegen wieder in mir auf, unerbittlich.
„ Ich darf nicht schon wieder in der Vergangenheit versinken, schau nicht dauernd zurück, es tut zu weh,“ sagte ich zu mir.
Mein Blick fiel auf das Röhrchen mit den Digitalis Tabletten darin, die meine Mutter zusätzlich zu den anderen Medikamenten nehmen musste. Ich hatte immer einen gewissen Tablettenvorrat für sie im Haus, so machte es nichts, wenn ich einmal ihre Tabletten nicht rechtzeitig bestellte oder nicht abholen konnte, weil ich beruflich unterwegs war
Ich konnte dann immer auf die Reserve zurückgreifen.
Deshalb hatte ich derzeit auch zwei Röhrchen mit Digitalis Tabletten im Haus. Eines in ihrer Medikamentenbox, ein fast noch halbgefülltes auf meinem Schreibtisch vor mir.
Es stand schon seit etlichen Wochen schräg links dort vor mir auf meinem Schreibtisch neben dem Telefon, seitdem der Irrsinn in diesem Haus unaufhörlich immer gewaltiger geworden war.
Mein einziger Freund war das und vielleicht einmal mein letzter Ausweg.
Es beruhigte mich, dieses Röhrchen.
Denn diese Lösung blieb mir ja immer noch.
Aber noch erschien mir eine solche Lösung gleichzeitig ganz weit weg. Noch hatte ich ganz tief in meinem Innersten ein kleines bisschen Kraft.
Und außerdem, was sollte ich dann mit ihr machen, die in den Etagen über mir wütete, und jetzt gerade wieder wer weiß etwas anstellte? Ich konnte sie unmöglich alleine zurück lassen, in diesem Zustand. Sie war schon früher dem Leben das sie führte, niemals gewachsen gewesen, geschweige denn heute.

Sie hatte schon ihr Leben lang in einem falschen Leben gesteckt, und die Schuld dafür immer bei den anderen gesucht.
Aber wer weiß, vielleicht wäre es mir mit ihrer Lebensgeschichte genauso ergangen.

Irgendwann einmal war sie dann vollkommen in sich gegangen und nicht mehr herausgekommen und seitdem machte sie sich und mir das Leben, wie schon seit etlichen Jahren vorher, immer mehr zur Hölle. Vor wenigen Jahren noch hatte ich geglaubt, dass eine Steigerung gar nicht mehr möglich wäre. Aber weit gefehlt!
Im Vergleich zu heute war das vor ein paar Jahren noch ein paradiesischer Zustand gewesen.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, schloss die Augen und dachte an meine Großmutter.

Meine Großmutter wurde im Dezember des Jahres 1909 geboren, in einer kleinen, überwiegend katholischen Gemeinde in der bayerischen Oberpfalz.
Ihr Vater, von Beruf Porzellanmaler, war im ersten Weltkrieg „gefallen“, und ihre  Mutter stand nun allein, mit der ehrenvollen Mitteilung, dass ihr Mann für Kaiser, Volk und Vaterland in treuer Pflichterfüllung an der Front gefallen und den Heldentod gestorben war, fast  unversorgt mit fünf Kindern da.

Ein Umstand, der das Vaterland jedoch nicht weiter bekümmerte.
Das bisschen Hinterbliebenenrente für Frau und Kinder reichte hinten und vorne nicht, und war nur ein Bruchteil dessen, was Christines Vater als Porzellanmaler verdient hatte.

Der Vater meiner Großmutter Christine war zwei Mal während des Krieges  auf Heimaturlaub nach Hause gekommen, so dass jetzt noch zusätzlich ein sechstes Kind unterwegs war.
Christine war im Jahr 1916, als ihr Vater an der Front ermordet worden war, knapp sieben Jahre alt, und das zweitälteste Mädchen unter den Kindern.
Sie und ihre ältere Schwester Anna mussten die Betreuung der beiden kleineren Geschwister übernehmen, der ältere Bruder Karl, 1904 geboren, wollte gerne eine Lehre als Elektriker machen.
Für einen Jungen aus einem armen Elternhaus war das keine einfache Sache, da ein Lehrling damals für seine Lehre noch Geld bezahlen musste.
Karl machte sich daher jetzt schon nützlich bei dem Elektrizitätswerk, und durfte nach der Schule den erwachsenen Männern zur Hand gehen und Hilfsdienste leisten, wie Werkzeug holen, Kabel und Drähte tragen, und aufräumen. Sehr selten bekam er für seine Hilfsdienste sogar auch einmal ein bisschen Geld zugesteckt; das sparte er für seine Lehrzeit.
Als Junge war er ohnehin nicht für die Verrichtung von Hausarbeiten und Haushaltsführung zuständig, das war Frauensache.

Da Christines Mutter Anna auch Geld verdienen musste um die Familie während der Abwesenheit des Mannes zu ernähren, arbeitete Anna in einer der zahlreichen, umliegenden Webereien als angelernte Fabrikarbeiterin an einem der vielen Webstühle. wie so viele andere Frauen auch.
Es war laut, sehr laut, in den großen, stickigen Fabrikhallen der Webereien und das Geklapper der Webstühle war ohrenbetäubend.

Kette und Schuss, Kette und Schuss, ohne Unterlass.

Meine Großmutter hatte mir öfter von ihrer Arbeit früher in der Weberei erzählt.
Nach der letzten Klasse der Volksschule musste sie mit knapp vierzehn Jahren ebenfalls in der Fabrik Geld für die Familie verdienen.

„Viele Webstühle standen in der Weberei Russler, Reihe an Reihe.
Zwei große Fabrikhallen gab es in der einen, unteren Fabrik, dann hatten sie noch einen andere, genauso groß, in Sorg oben, gleich am Ortseingang.
Gleich nach der Schule musste ich ja auch in die Weberei, Geld verdienen.
Ich war sogar noch stolz, dass ich der Mutter jetzt mehr helfen konnte, als nur mit dem bisschen Geld für das Stopfen von Filet Decken, Nähen, Obst und Gemüse Einkochen und Pilze holen.“
Das hatte sie mir erzählt. Und dass sie sogar noch stolz darauf war, zum Familienunterhalt beizutragen.

Meine Großmutter hatte während ihrer ganzen Schulzeit, in der sie sich zusätzlich um den Haushalt und ihre kleineren Geschwister kümmern musste, auch immer noch mit irgendeiner Heimarbeit zu Hause Geld für den Familienunterhalt mit dazu verdient, schon seit sie sechs Jahre alt war.

Nach einer kurzen Pause fuhr sie damals fort:
„Ich kam in den gleichen Saal, in dem auch die Mutter gearbeitet hat. Sie hat mir dann alles beigebracht, und mir erklärt wie die Webstühle funktionieren damit der Stoff ordentlich gewebt wird und was ich machen muss.
Und worauf ich alles aufpassen muss, damit es keine Fehler und keinen Ausschuss gibt. Das war ein Krach, das kann ich Dir sagen, da konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen. Und schwer war es auch, und flink musste man sein.“
Sie sah mich an. Ich nickte.

„ Mit vierzehn musstest Du dort hin, da warst Du nicht sehr viel älter als ich es jetzt bin.“

Wir schwiegen beide einen Moment und sahen uns an.

„Und wie entsteht so ein gewebter Stoff?“

„ Also, die großen Webstühle sehen ungefähr so aus,“ und sie schrieb Linien mit der Hand in die Luft.
„ Der Stoff entsteht aus Kett,- und Schußfäden. Die Kettfäden sind in den großen Gestellen befestigt und wandern von hinten nach vorne, dahin, wo Du stehst. Und Du stehst die ganze Zeit am Webstuhl, zehn, zwölf Stunden lang, nur mit ganz kurzen Pausen, bei denen immer einer ganz genau auf Deine Zeiten aufpasst.
Also, jedenfalls, der Schussfaden wird  mit einer Garnspule, dem Schützen, den man andauernd mit kräftigen Handbewegungen waagrecht hin und her schleudern muss,  durch die Kettfäden hindurch geschossen. Immerzu. Die Kettfäden werden dabei teils angehoben und teils herunter geschoben, so entsteht das Fach für die Schussfäden.“
Großmutter hielt einen Moment inne, während der Blick ihrer blauen Augen hinaus, durch das Fenster wanderte.

„ Wenn Du müde warst, konntest Du Dich nicht mal setzen oder ausruhen. Aber das war nicht so schlimm. Ich hab jeden Tag nur dran gedacht, was ich heute verdienen kann, und wie das der Mutter hilft. Ich wäre gern weiter auf die Schule gegangen, aber wir brauchten dringend das Geld. Wir Kinder hatten ja nicht mal jeder ein paar eigene, feste Schuhe, die mussten sich immer zwei Geschwister teilen, genau wie das gute Kleid für den Sonntag.“
„Ja und unter der Woche? Ihr seid doch damals auch in die Schule gegangen. Seid ihr da barfuß gelaufen?“
Großmutter lächelte: „ Nein, da hatten wir selber geschnitzte Schuhe, so eine Art Holzpantoffel. Im Winter blieb unten immer der Schnee dran kleben, wenn er matschig war, dann wurden sie richtig schwer.“

Was für eine Welt ist das nur gewesen, dachte ich, grausam und unbarmherzig und ungerecht. Das was sie erzählte, tat mir weh, obwohl sie mit keinem Wort jammerte. Niemals. Sondern mit allem und jedem, was sie tat, immer nur „ der Mutter“ das Leben erleichtern wollte. Und immer viel zu wenig an ihr eigenes dachte. Wenn ich erwachsen war, das wusste ich , würde ich studieren und viel Geld verdienen, damit ich ihr wenigstens jetzt ein schönes Leben machen konnte, als Ausgleich für all das, was sie viele Jahre lang zuvor mitgemacht hatte.
Sie sah mich nachdenklich an und fuhr dann fort:
„ Das bisschen Hinterbliebenenrente, als der Vater aus dem Krieg nicht mehr wiederkam; das waren ein paar Mark, das reichte vorne und hinten nicht, nicht mal zum Leben. Und damals wohnten wir ja noch zur Miete, da hatten wir das Häuschen noch nicht, und Marie und Luis waren noch klein. Und die Lehre vom Karl kostete auch noch Geld, aber er sollte ja einen Beruf lernen, damit er es mal besser hatte als Elektriker. Da verdiente er mehr, als als ungelernter Fabrikarbeiter, dann konnte er auch daheim etwas abgeben, und außerdem, als Mann musste er ja auch seine Familie ernähren können, hat die Mutter immer gesagt.“

Ihre schönen, kornblumenblauen Augen sahen jetzt durch mich hindurch, in die ferne, längst vergangene Welt ihrer Kindheit.
„ Jedenfalls konnte die Mutter dann aufhören, in der Weberei zu arbeiten, kurz nachdem ich dort angefangen habe. Und sich daheim um die Marie und die Luis kümmern. Heimarbeit hat sie dann freilich auch noch gemacht, Filetdecken stopfen und nähen. Aber das war besser als in der Fabrik. Da war ich schon stolz,“ lächelte sie mich an. Und fuhr dann fort:
„ Und der Karl wohnte ja auch noch zu Hause, in der engen kleinen Wohnung, als er die Lehre gemacht hat.“
Ich sah sie an und dachte wiederum nur eines: „Wie kann ich das alles nur wieder gut machen an Dir, was andere Dir angetan haben?“
Aber ich sagte es ihr nicht. Vielleicht las sie es, in meinem nachdenklichen Blick. So hörte ich weiter zu:
„ Man durfte keinen Fehler machen, in der Weberei, damit es keinen Ausschuss gab. Deshalb ging auch immer ein Vorarbeiter mit einem extra Kittel andauernd durch die vielen langen, lauten Reihen mit den hohen Webstühlen, vor denen wir standen und kontrollierte die fertigen Bahnen und freilich auch schon die Arbeit, während du gewebt hast.
Wenn du Ausschuss hattest, und der Vorarbeiter das merkte, zogen sie dir dafür die Materialkosten vom Lohn ab. Manchmal übersah der Kontrolleur auch Webfehler in den Stoffen während des Webens oder wollte sie übersehen. Und so fielen sie dann erst bei der Endkontrolle auf. Dann ließen sie sich aber nicht mehr ganz so einfach einer bestimmten Arbeiterin zuordnen.
Die schadhaften Stoffe wurden aussortiert, und meine Freundin Therese, die in einem anderen Raum arbeitete, musste die mangelhaften Stoffballen dann noch ein zweites Mal durchschauen.“
„Und warum?“
„Weil die Stoffballen, bei denen die Webfehler kaum oder gar nicht auffielen, wieder zurück in die gute Ware gelegt und als fehlerfrei verkauft wurden. So blieben bei den schadhaften Stoffen dann nur die mit den Fehlern zurück, die man wirklich nicht übersehen konnte.
Die konnten wir dann ein bisschen billiger kaufen.“
„ Das ist doch blöd und ungerecht. Warum habt ihr euch das alles nur gefallen lassen?“ entgegnete ich vorwurfsvoll.
Meine Großmutter lächelte mit der Weisheit eines Menschen, der sich schon sein Leben lang ungerechte Vorwürfe unbedarfter Narren, so wie ich damals einer war,  oder von Egoisten angehört hatte:
„ Du musst noch viel lernen. Das Leben ist wie eine Hühnerleiter, man kommt vor lauter Dreck nicht weiter.“
Und während sie das sagte, sah sie mich mit ihrem warmen, kleinen, sybillinischen Lächeln an.
„ Nein bestimmt nicht. Das glaub ich nicht. Aber warum hast Du vorhin gesagt, dass der Kontrolleur die Webfehler auch übersehen wollte? Wozu war er denn dann überhaupt da?“
Großmutter schwieg einen Moment und schien mit sich zu kämpfen. Wiederwillen las ich in ihrem Gesicht, an den herabgezogenen Mundwinkeln, und sie winkte mit der Hand ab.
„ Doch, komm schon, sag halt,“ beharrte ich.
Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort.
„Weil da Saukerle dabei waren, die genau wussten, wie weh das tat, wenn einem der ohnehin knappe Lohn auch noch um den Ausschuss gekürzt wurde. Die waren wie die Herrgötter in der Fabrik, musst Du Dir vorstellen. Einer war ein ganz besonders widerlicher Kerl, eine Frau und vier Kinder zu Hause, mit kurzen, dicken Wurstfingern. Ganz dicht hat der sich an einen heran gestellt.
Hat so getan, als müsste er ganz genau hin schauen, und dann hattest du schon Angst, und der Magen hat sich dir umgedreht. Dann hat der Kerl dich überall betatscht, mit seinen widerlichen Griffeln, bis zum Hintern, oder vorne.“
Sie deutete auf ihre Brust.
Selbst  auf den alten Photographien konnte man noch sehen, dass meine Großmutter  ein besonders hübsches Mädchen gewesen war, mittelgroß, mit haselnussbrünetten, halblangen, glänzend  welligen Haaren, in der Mode der zwanziger Jahre; mit  schönen regelmäßigen Gesichtszügen und diesen wunderschönen großen Kornblumenaugen, die mir so fehlen.
„ So ein altes Schwein,“ entgegnete ich entrüstet.
„Und was hast Du da gemacht?“ Ich hab dem Kerl auf seine schmierigen Griffel gehauen, richtig fest auf den Fuß getreten und ihm ins Ohr gebrüllt, dass ich es seiner Frau, der Wally, sage, wenn er das noch einmal macht.“
Ich war beeindruckt. Und versuchte mir die vielen jungen Mädchen und Frauen vorzustellen, und wie viele wohl diesen Mut gehabt hatten.
„ Der Kerl hat einige ins Unglück gebracht, dieser Saukerl. Viele haben sich aus Angst alles gefallen lassen; und nicht wenige, weil sie dann keinen Ausschuss mehr hatten. Solche gab es auch. Na, jedenfalls hat uns die Mutter immer eingeschärft: „Dass Du mir ja nicht mit einem Bündel heim kommst“. Immer wieder.“
„ Bündel? Was für ein Bündel?“ sah ich sie erstaunt an.
Großmutter schüttelte ein wenig unwillig den Kopf.
„ Das wusste ich damals erst mal auch nicht. Aber schau Dir mal  die zwei Bilder ganz oben neben der Dachbodentür an. Dann weißt Du es.“
Sie stand auf und ging in die Küche, um das Abendessen herzurichten. Und ich lief die drei Etagen nach oben bis zum Dachgeschoß. Rechts neben der Tür hingen die beiden Bilder, die ich natürlich kannte, aber noch niemals so genau betrachtet hatte. In Braun,- und Beigetönen waren sie gehalten. Jedes war so groß wie ein Blatt Papier. Sie hatten schmale, goldfarbene Holzrahmen, und auf jedem der beiden Bilder war hinter Glas eine junge Frau abgebildet. Es war immer dieselbe. Eine hübsche junge Frau war das, mit halblangen, gewellten Haaren, brünett, auch mit einer dieser typischen zwanziger Jahre Frisuren. Auf dem ersten Bild hielt sie ein gerade geborenes Kind im Arm, das in einem Taufkleidchen steckte. Sie sah liebevoll auf das Kind  herunter, und dabei tropften dicke Tränen auf das Kindchen. Die junge hübsche Frau war ganz allein auf dem Foto, niemand war bei ihr. Sie war wohl in einer Kirche. Auf dem zweiten Bild hatte die junge Frau wieder ihr Kind auf dem Arm, es dämmerte, und sie ging mitsamt ihrem Kind ins Wasser. Ein Waldsee war das, mit Schilf und hohem Gras, und im Hintergrund mit einigen Bäumen, Birken und Tannen, umstanden. Sie stand schon ein Stück vom Ufer entfernt im See, das Wasser reichte ihr bereits bis zu den Hüften. Gleich würde der See sie und ihr Kind verschluckt haben.
„ Hast Du gefehlt mit Unverstand, so ist Dein Trost das kühle Nass,“ stand bei dem zweiten Bild als Bildunterschrift darunter.
„Wie schrecklich.“
Ich betrachtete noch eine Weile diese beiden Bilder, sie waren wie alte Fotographien.
„ Wie schrecklich, sie bringt sich und ihr Kind um und geht ins Wasser. Und das soll ein Trost sein?“ dachte ich nochmals.
Aber zumindest war mir bei der Betrachtung der Bilder auch klar geworden, was „ ein Bündel“ war: Das also war „ein Bündel“, ein neugeborenes Kind. Und weder von Schule noch Elternhaus aufgeklärt dachte ich weiter:
„Wenn ein Mann einen also anfasste oder sonst irgendwie zu nahe kam, bekam man ein Kind. Und das ein Kind zu bekommen ohne verheiratet zu sein, eine schlimme Sache war, das wusste ich bereits durch das Getuschel meiner Tanten, wenn sie bei ihren regelmäßigen Treffen über andere herfielen: